Ansprache
(Pastor Gert Kelter am Mittwoch nach Okuli 2004)
Nägel als Siegel des Unglaubens
Und als sie kamen an die Stätte, die da heißt Schädelstätte, kreuzigten sie ihn dort und die Übeltäter mit ihm, einen zur Rechten und einen zur Linken. (Lukas 23,33)
Liebe Brüder und Schwestern,
über meinem Arbeitsplatz hängt ein Kruzifix, eines von der
traditionellen, realistischen Art. Ich habe es von dem kürzlich verstorbenen
Pastor Theo Grewe erworben und es gefiel mir –ehrlich gesagt- weil die rötliche
Holzfarbe des Kreuzes gut zu meinen Möbeln paßte. Daß der Corpus, also der Leib
Christi, sehr naturalistisch in Leichenfarbe gehalten ist, daß der Körper
ausgemergelt und knochig dargestellt ist, daß auf die vier Nagel- und die
Speerwunde, täuschend echt wirkend, austretendes und die Gliedmaßen
herunterrinnendes Blut aufgemalt ist, daß der gekreuzigte Leichnam Christi bei
genauerer Betrachtung sich kaum von den toten Leibern gepeinigter KZ-Häftlinge
unterscheidet, hat mich nicht weiter gestört. Welche Monstrosität hängen wir
Christen uns da eigentlich in unsere Kirchen und in unsere Wohnräume? Mit
welchem Recht mokieren wir uns über die Monstrosität und abstoßende Häßlichkeit
heidnischer Götzenbilder in Indien oder Afrika? Kann man es nicht verstehen, daß
viele Zeitgenossen ihre Wohnungen lieber mit einem feisten, lächelnden, fest auf
der Erde sitzenden, in sich ruhenden Buddha zieren, als mit dem Abbild einer
gefolterten Leiche, die haltlos zwischen Himmel und Erde hängt?
Nein, ich wollte durchaus nicht nur einen dekorativen
Wandschmuck, ich wollte wohl ein Bekenntnis- und Andachtsbild, aber ich bin an
den Anblick des Gekreuzigten genauso gewöhnt wie die meisten Christen.
Ich verbinde mit dem Bild des Gekreuzigten aus einer Mischung
von Überzeugung und Gewohnheit zuerst meine Erlösung, meinen Trost, mein
Heil, vielleicht auch das Bekenntnis zur wahren Menschheit Jesu aber nicht das
Leiden Jesu Christi und schon gar ist mir beim Anblick eines Kruzifixes immer
und sofort bewußt und deutlich: „Nun, was du Herr, erduldet, ist alles meine
Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast." Oder: „Ich bin’s,
ich sollte büßen an Händen und an Füßen gebunden in der Höll."
Nur, liebe Gemeinde, wenn es das aber nicht ist, dann
ist es nichts. Dann ist die Grausamkeit der Kreuzigung, dann sind die Qualen des
Gekreuzigten nur Geschichte. Eine ergreifende aber nicht erlösende Geschichte
Vielleicht war die einseitige, manchmal fast mystisch
anmutende Betrachtung und Versenkung in die Leiden und Nagelwunden Christi, die
in der Vergangenheit typisch für lutherische Frömmigkeit war, eine unzulässige
und einseitige Gewichtsverlagerung, die auf Kosten eines befreiten und
fröhlichen Auferstehungsglaubens ging. So sagte man ja, die Lutheraner seien
eher trübe Karfreitagschristen, während die römischen Katholiken sich gern als
lebensbejahende Osterchristen verstanden. Und tatsächlich hat der Karfreitag in
der lutherischen Kirche nach wie vor in den Köpfen vieler die Bedeutung des
höchsten christlichen Feiertages, während dasselbe in der römischen Kirche vom
Osterfest gedacht und gesagt wird.
Aber jede Einseitigkeit bringt einen in eine Schieflage; so
oder so. Karfreitag ohne Ostern ist der düstere Schlußpunkt hinter einer
Geschichte des Scheiterns. Aber Ostern ohne Karfreitag bleibt die Legende von
der Unsterblichkeit.
„Ich grüße dich am Kreuzesstamm, du hochgelobtes Gotteslamm,
mit andachtsvollem Herzen" kann nicht die letzte Strophe unseres Passionsliedes
sein, wenn wir uns nicht bewußt machen, was da eigentlich geschehen ist, welche
Rolle dieses Kreuzesleiden für mich und alle Menschen und welche Rolle ich
selbst in diesem Kreuzesleiden spiele.
<Die Kreuzigung war im römischen Reich die schrecklichste
Art, einen Menschen hinzurichten.> Diese Aussage kennen wir und denken uns
vielleicht sofort Todesarten aus, die wir selbst für viel schrecklicher halten.
Die Kreuzigung ist übrigens keine römische, sondern
ursprünglich eine persische Erfindung, die über Karthago nach Rom gelangte. In
Israel durfte sie aber an Juden nicht vollzogen werden, genauso wenig, wie sie
in Rom römischen Bürgern angetan werden durfte. Gekreuzigt wurden immer nur
Ausländer, Rebellen, Aufrührer und Staatsfeinde.
Das öffentliche Aufhängen eines Menschen, ob an einem Baum,
einem Galgen oder eben einem Kreuz galt den Juden als Zeichen der Verfluchung
durch Gott. Im 5. Buch Mose, Kapitel 21 heißt es von den Aufgehängten: „Sein
Leichnam soll nicht über Nacht an dem Holz bleiben, sondern du sollst ihn am
selben Tage begraben - denn ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott -, auf daß
du dein Land nicht unrein machst, das dir der HERR, dein Gott, zum Erbe gibt."
Und Galater 3 nimmt der Apostel Paulus diese Stelle auf und
sagt: „Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch
wurde für uns; denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz
hängt." Gemeint ist: Christus ist der, der unsere Verfluchung auf sich nimmt und
stellvertretend dafür sühnt.
Wir sehen: Allein die Todesart des Aufhängens an sich ist für
einen Juden das Schlimmste, was einem Menschen überhaupt widerfahren konnte und
das noch ganz unabhängig von den konkreten Qualen, die damit verbunden waren.
Von Gott im Tod und durch den Tod verflucht zu sein, ist ein nicht mehr
rückgängig zu machendes endgültiges, von Gott selbst besiegeltes Vernichtungs-
und Verdammungsurteil.
Gekreuzigt zu werden heißt nun aber nicht nur aufgehängt zu
werden. Gekreuzigt zu werden heißt durchbohrt zu werden.
Es gab wohl die Methode, Verurteilte „nur" mit Seilen an
Händen und Füßen am Kreuz festzubinden. In vielen Darstellung sogenannter
Kreuzigungsgruppen sieht man auch die Verbrecher zur Linken und Rechten Jesu nur
mit Seilen an das Kreuz gebunden. Der Tod war auch hierbei unausweichlich und
trat nach vielen Stunden, manchmal erst nach Tagen durch Erschöpfung, Quetschung
der inneren Organe und Kreislaufkollaps ein.
Dauerten die Qualen zu lange, wurden den auf diese Weise
Gekreuzigten die Schienbeine gebrochen, um durch die dann eintretende Stauchung
der Lungen einen schnelleren Erstickungstod herbeizuführen.
Jesus wurden die Schienbeine nicht gebrochen und der
Evangelist Johannes erklärt dazu: „Das ist geschehen, damit die Schrift erfüllt
würde: ‚Ihr sollt ihm kein Bein zerbrechen’." Aber von wem wird das im 2. Buch
Mose gesagt? Dieses Wort steht im Zusammenhang mit der Einsetzung des
Passahmahles, also des Bundesmahles der Erlösung Israels und es wird vom
Passahlamm, von dem Lamm Gottes, gesagt, das stellvertretend für die Sünden
Israels geopfert wird.
Und Jesus wurde nicht ans Kreuz gebunden, sondern ans
Kreuz genagelt. Wiederum zitiert der Evangelist Johannes erklärend das
Alte Testament, nämlich den Propheten Sacharja im 12. Kapitel, wo es heißt: „Sie
werden den sehen, den sie durchbohrt haben."
„Sie", das sind die untreu gewordenen Bürger Jerusalems,
stellvertretend für das ganze Volk Israel. Und der, den sie durchbohrt haben,
von dem es wenige Verse später heißt, sein Vater und seine Mutter, die ihn
gezeugt haben, würden ihn durchbohren, weil sie ihn beschuldigen, im Namen des
HERRN Lüge zu reden, ist der Prophet, den Gott dem Volk Israel senden wird.
Was stand als Begründung des Todesurteils über dem Kreuz Jesu?
Jesus von Nazareth, der König der Juden. Und alle, die ihn anklagten, die ihn
verhörten, verurteilten und hinrichteten waren sich darin einig: Diese
Behauptung ist eine Lüge. Religiös verstanden, so die Juden, ist es eine
Gotteslästerung, weil sie zurecht daraus hörten, daß Jesus für sich das
endzeitliche Königtum des Messias und Erlösers in Anspruch nahm; für die Römer
war es Majestätsbeleidigung und das Geständnis der Rebellion gegen den Kaiser.
Den Juden ist er ein Ärgernis, den Heiden eine Torheit. Das Kreuz ist die
Konsequenz und wird in der Verkündigung der Kirche wiederum den Juden ein
Ärgernis und den Heiden eine Torheit.
Im Namen des Herrn soll er Lüge geredet haben, darum mußte er
durchbohrt, ans Kreuz genagelt werden.
Mit jedem Nagel, der in die Hände und Füße Jesu getrieben
wurde, besiegelte man dieses Urteil: Dieser ist ein Lügner, dessen Botschaft man
nicht glauben darf. Jeder Nagel, der in die Hände und Füße Jesu getrieben wurde
ist also ein Siegel des Unglaubens gegenüber dem Evangelium Jesu Christi. Da, im
Unglauben gegenüber dem Evangelium, liegt die Ursache und die Ursünde
und alles andere ist die Folge.
Daß es sich um vier Nägelmale handelt, ist vernünftig und
natürlich damit zu erklären, daß Jesus zwei Hände und zwei Füße hatte. In der
biblischen Zahlensymbolik steht die Vier aber immer auch für die vier
Himmelsrichtungen und meint „alle Welt, alle Völker, alle Menschen".
So verstanden erhält die Tatsache, daß Juden und Heiden
gemeinsam den Prozeß Jesu und seine Hinrichtung betrieben haben, daß also das
auserwählte Gottesvolk Israel und die Völkerwelt, zu der auch wir gehören,
gemeinsam den Christus Gottes als Lügner bezeichnet, abgelehnt und durchbohrt
haben, eine tiefe Bedeutung: „Ich, ich und meine Sünden, die sich wie Körnlein
finden des Sandes an dem Meer, die haben dir erreget das Elend, das dich
schläget, und das betrübte Marterheer."
Die Nägel, mit denen Jesus an Kreuz geschlagen wurde, wurden
seit der frühesten Zeit der Kirche verehrt. Allerdings so verdinglicht und
losgelöst von ihrer eigentlichen, biblischen Bedeutung, daß man, würde man alle
Nägel, die irgendwo auf der Welt als echte Kreuzesnägel Jesu, als Reliquien
verehrt werden, zusammentragen, daraus vermutlich ein ganzes Stahlwerk
konstruieren könnte. Und trotzdem kann man selbst diesem Mißbrauch noch einen
guten geistlichen Sinn abgewinnen: Alle vermeintlichen Kreuzesnägel, die es je
gab, gibt und geben wird, würden nämlich nicht ausreichen, um die Wucht der
Sünde, die Gewalt des Unglaubens darzustellen, die die Schöpfung, die also auch
jeder von uns der Liebe Gottes, des Schöpfers entgegenschleudert.
Immer wenn ich sage: „Sollte Gott wirklich gesagt und gemeint
haben....? und dann meinen eigenen Willen durchsetze und eine von Gott gesetzte
Grenze überschreite, spreche ich das uralte Urteil: Du bist ein Lügner! - und
schlage wieder einen Nagel ein.
Immer wenn ich denke oder sogar sage: „Ich habe keine Sünde,
für die Gott selbst stellvertretend sterben müßte, von der mich ein Gott erlösen
müßte, nenne ich Gott einen Lügner und die Wahrheit ist nicht in mir und wieder
schlage ich einen Nagel ein.
Aber dann haben die Nägel, oder besser die Nägelmale Jesu
noch eine Bedeutung:
Und in der Tat, diese Bedeutung erlangen sie erst zu Ostern,
mit der Auferweckung Jesu von den Toten. Bedeutung, Heilsbedeutung haben sie für
uns ‚Karfreitagschristen’ in der Nachfolge des zweifelnden, des ungläubigen
Apostels Thomas: Vordergründig besteht der Zweifel, der Unglaube des Thomas
darin, daß er nicht glauben kann, daß Gott den vor seinen Augen getöteten Jesus
auferweckt hat, daß der Getötete lebt und der vor ihm stehende derselbe ist wie
der, der am Kreuz durchbohrt wurde. Jesus zeigt ihm deshalb die Nägelmale und
Thomas kann ihn daraufhin als denselben erkennen und identifizieren, den sie
getötet hatten.
Im Hintergrund steht aber derselbe Zweifel, derselbe Unglaube
wie bei uns allen: Hat das Leiden Christi wirklich einen Sinn? Und ist dieses
Leiden wirklich mein Leiden, mein Tod, Folge meiner Sünde, meines Unglaubens?
Mußte Christus dies wirklich erleiden, an meiner Stelle und für mich, damit ich
frei vom Fluch leben kann und selig werde?
Jesus selbst hält dem Apostel Thomas die Osterpredigt, in dem
er ihm seine Nägelmale zeigt und ihm erlaubt, seine Hände dahinein zu legen.
Auferstehung und Durchbohrung, Ostern und Karfreitag zusammen predigen das ganze
Evangelium und bewirken den Glauben und das Bekenntnis: Mein Herr und Gott, der
mich verlorenen und verdammten Menschen mit seinem heiligen teuren Blut erlöst
hat.
Daß der von alters her Verheißene der Durchbohrte ist, der
Durchbohrte der Auferstandene und der Auferstandene mein Herr, daß predigen die
Kreuzesnägel und die Nägelmale Jesu bis heute.
Am Ende aber ist es nicht das Sehen, wie es in dem
Passionslied heißt: „Aber laß mich nicht allein deine Marter sehen, laß
mich auch die Ursach fein und die Frucht verstehen. Ach, die Ursach war
auch ich, ich und meine Sünde: diese hat gemartert dich, daß ich Gnade finde."
Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.
Amen.