Predigt

(Pastor Gert Kelter am Sonntag Okuli 2003)

Glaube und Gehorsam

Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst.
Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.
Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Las die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind.
Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. (Lukas 9,57-62)

 

Liebe Brüder und Schwestern,

„Es erwartet Sie ein intaktes Dorfleben. Eine Pfarramtssekretärin und ein Diakon werden Sie unterstützen. Ein schönes Pfarrhaus im Fachwerkstil, eine „Insel im Grünen", steht für Sie bereit. Unsere Gemeinde liegt in unmittelbarer Nähe zur Landeshauptstadt Hannover und verfügt über alle Schultypen, sowie beste Verkehrsanbindungen. Ihre Bewerbung richten Sie bitte an das Landeskirchenamt Hannover."

So lesen sich Stellenausschreibungen für landeskirchliche Pfarrstellen. Werbend auf der Suche nach Bewerbern.

Bei uns geht man andere Wege. Nicht die Bewerbung, sondern die Berufung ist ausschlaggebend. Das Berufungsrecht haben die Gemeinden. Will ein Pastor die Gemeinde wechseln, muss er darauf warten, bis ihn eine Gemeinde beruft. In früheren Zeiten wurde die Berufung als geistliches Ereignis noch wesentlich ernster genommen und es war streng verpönt, wenn ruchbar wurde, dass Pastoren ihr Fühler ausstreckten und selbst aktiv wurden, um eine bestimmte Berufung vorzubereiten. Dass das trotzdem geschah und wer da manchmal die eigentlichen Entscheidungen trifft, zeigt der Witz von dem Pastor, der eine Berufung erhalten hat und nun in seinem Amtszimmer auf den Knien liegt und im Gebet um die rechte Entscheidung ringt „Soll ich gehen oder bleiben?", während im Stockwerk über ihm die Pfarrfrau bereits die ersten Umzugskisten packt.

Wie auch immer man Pfarrstellen kirchenrechtlich besetzt: Machen wir uns nichts vor, der geistliche Aspekt kommt hier wie da zu kurz. Ob die Fuchsgruben und warmen Nester auch gut gepolstert sind, ist für viele Pastoren und noch mehr Pfarrfrauen eine durchaus entscheidende Frage. Aber dieses Sicherheits- und Bequemlichkeitsdenken ist nicht etwa typisch für die sog. „hauptamtlichen Christen", sondern für jeden von uns. Was heißt „Berufung in die Nachfolge Jesu?"

Um Berufung in die Nachfolge geht es im heutigen Evangelium. Drei unterschiedliche Menschen begegnen uns. Der erste ist ein Bewerber. Jesus hat ihn nicht berufen. Aber der Mensch sagt: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Das klingt wie ein Ausdruck tiefen Glaubens. Und vermutlich denkt jeder von uns: Glaube ist doch die wichtigste Voraussetzung für echte Nachfolge. Was Jesus darauf antwortet, klingt wie der Satz, den wir aus der Medikamentenwerbung kennen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen die Packungsbeilage oder fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker." Das Medikament hilft dir, aber du musst das Risiko der Nebenwirkungen in Kauf nehmen, die dieses Medikament mit sich bringt. Mit anderen Worten: Zum Glauben muss auch der Gehorsam kommen und der erste Schritt des Gehorsams wird zeigen, ob Glauben da ist oder nur vorübergehende Begeisterung. Indem Jesus diesem ersten Menschen klar sagt, dass Nachfolge im Glauben und Gehorsam Verzicht und Loslassen bedeutet, dass es nicht so ist, dass der, der glaubt, keine Probleme mehr hat, ruft er diesen Menschen, der sich in die Nachfolge drängt und bewirbt, in eine Entscheidungssituation. Ob es wirklich Glaube ist oder nur Strohfeuerbegeisterung, wird sich im ersten Schritt des Gehorsams erweisen.

Der zweite Mensch wird von Jesus berufen. Er bewirbt sich nicht. Aber auch hier findet sich der Berufene durch das Wort Jesu in einer Entscheidungssituation wieder. Vordergründig will er sich dem Ruf nicht verschließen oder widersetzen. Aber er stellt Jesus eine Bedingung: „Erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe." Mit diesem Satz, auf den ich gleich noch eingehen will, möchte der Berufene die Entscheidung aufschieben: Erst das eine, dann das andere. Was ist dieses Eine, das dem Gehorsam gegenüber Jesu Wort noch vorzuziehen ist? Auf den ersten Blick ist das kein krasser Ungehorsam. Im Gegenteil: Wenn die Bitte des Menschen so zu verstehen ist, dass tatsächlich sein Vater kürzlich gestorben und noch unbestattet ist, dann ist es die selbstverständliche Pflicht eines Sohnes und auch die Gesetzespflicht eines frommen Juden, seinen Vater angemessen und ehrenvoll zu bestatten. Ist die Bitte so zu verstehen, dass der berufene Mensch Jesus wohl nachfolgen möchte, aber erst, nachdem sein Vater gestorben und begraben ist, um den er sich solange noch zu kümmern hat, gilt dasselbe, nur mit zeitlich länger aufschiebender Wirkung: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, sagt das Gesetz. Und also muss ich erst das Gesetz erfüllen, bevor ich dir im Glauben nachfolgen und alles hinter mir lassen, alle Bindungen verlassen kann.

Ist Jesus ein militanter Fundamentalist, wenn er auf diese verständliche Bitte antwortet: „Las die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes"?

Wir erinnern uns: Der erste Mensch, der sich begeistert selbst bewirbt, hatte scheinbar Glauben. Aber Jesus ruft ihn durch sein Wort in die Entscheidung und sagt ihm, dass der Glaube sich erst als Glaube erweist, wenn der erste Schritt des Gehorsams getan wird, eines Gehorsams, der Opfer verlangt.

Der zweite Mensch hingegen will gehorsam sein, bevor er glaubt und Jesus nachfolgt. Er will erst andere wichtige Aufgaben seines Lebens erfüllen, bevor er sich der Aufgabe zuwendet, das Reich Gottes mit allen Fasern seines Lebens zu verkündigen. Und Jesus sagt ihm: Das geht nicht. Es gibt keinen Glauben ohne Gehorsam und es gibt keinen Gehorsam ohne Glauben.

Der Ruf Jesu in die Nachfolge ist unwiderstehlich, indem er einen Menschen in die Entscheidung ruft, der sich ein Mensch nicht verschließen kann. Nicht einmal unter Berufung auf das Gesetz. Wo Jesus Christus einen Mensch in die Nachfolge ruft, kann es nur noch Gehorsam seinem Wort gegenüber geben.

Der dritte Mensch ist wieder ein Bewerber und kein Berufener. Er hat die Lehre Jesu als gut und sinnvoll, als bereichernd für sich und sein Leben erkannt. Mit seinem Verstand hat er sich einen Plan zurecht gelegt: Zuerst regele ich alle meine Angelegenheiten, nehme Abschied, bestelle mein Haus und dann trete ich ein als Lehrling in der Lehre eines großen Rabbis.

Nachfolge ist für diesen Menschen nicht die unwiderstehliche Folge eines Rufes Jesu, sondern ein Lebensplan, eine Möglichkeit auf dem Markt der Möglichkeiten, für die er sich erwärmen konnte. Er ist ja dabei, wenn’s um ein exzentrisches Aussteigerleben geht, aber nur unter bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen. Und die stellt er selbst. „Erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme."

Da soll kein Bruch, sondern ein glatter, harmonischer Übergang entstehen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sollen in seinem Lebenslauf in bruchloser Folgerichtigkeit erscheinen. Er will das Alte in gewisser Weise behalten, mit hineinnehmen in das neue Leben als Nachfolger. Er sagt zwar „Abschiednehmen", aber er meint: Keinen Riss, keinen Bruch, keine abgebrochenen Brücken und keine verschlossenen Rückwege hinterlassen. Man weiß ja nie. Eine Entscheidung möchte ich wohl treffen. Aber doch nicht so endgültig, dass ich sie nicht wieder rückgängig machen könnte.

Mit dem Wort Jesu von dem Pflüger, der, um gerade Furchen zu ziehen, den Blick nach vorne richten muss, der nicht zurückblicken darf, weder im Zorn, noch in Nostalgie, ruft Jesus auch diesen dritten Menschen durch sein Wort in die Entscheidung.

Bevor es zum Glauben kommen kann, muss dieser dritte Mensch einen Schritt des Gehorsams machen, Jesu Bedingungen erfüllen, nicht seine eigenen. Sonst ist er nicht geeignet für das Reich Gottes.

Liebe Gemeinde, das sind drei ziemlich harte und fast unbarmherzige Dialoge, die uns der Evangelist von Jesus überliefert. Dreimal ist das Wort „Entscheidung" gefallen. Mache ich mich damit verdächtig, unter die Bekehrungsprediger und Werkgerechten gegangen zu sein? „Entscheidung" – das scheint im lutherischen Wortschatz sonst nicht vorzukommen. Aber da muss man unterscheiden: Meine gehorsame Entscheidung, mich dem Evangelium auszusetzen macht mich nicht gerecht vor Gott. Meine Entscheidung ist kein frommes Werk, aufgrund dessen mich Gott selig machen müsste. Aber ein Glaube ohne Gehorsam ist nicht möglich und nicht denkbar. Und da der Glaube aus dem Wort kommt, kann kein Glauben entstehen, wenn ich mich dem Wort entziehe.

Ich höre das immer wieder, auch in der eigenen Familie: Ich möchte gerne glauben, aber ich kann es nicht. In einer Zeit, in der man in der Kirche gerne niedrigschwellige Angebote für Zweifelnde machen möchte, in der es gilt, keine Hürden aufzubauen, keine Bedingungen und Forderungen zu stellen, ist man auch als Seelsorger sehr geneigt zu sagen: Dann habe ich auch kein Argument mehr. Wenn einer schon sagt: Ich möchte doch glauben, dann scheint es wirklich so zu sein, dass Gott die einen zum Glauben beruft, die anderen –aus welchen Gründen auch immer - eben nicht. Da kann man, da kann ich auch nichts ändern. Der liebe Gott wird’s schon richten, aber er wird bestimmt diesen armen Menschen, der doch eigentlich gerne glauben möchte, nicht richten.

Nur fällt mir auf der anderen Seite immer wieder auf: Dieselben Menschen, die so scheinbar gutwillig glauben möchten, weigern sich strikt, sich dem Wort und dem Ruf Jesu Christi auszusetzen und den ersten Schritt weltlich-irdischen Gehorsams zu tun. Das hieße nämlich, sich dahin zu bewegen, wo man Gottes Wort hört, also zum Beispiel sonntags in die Kirche. Das hieße, sich nicht in Zweifeln über die vermeintliche Widersprüchlichkeit der Heiligen Schrift zu ergehen, sondern sich die Zeit zu nehmen, die Schrift zu studieren, darin regelmäßig zu lesen, sie zu verstehen versuchen, zu Bibelstunden und Gesprächskreisen zu kommen. Das hieße in vielen Fällen auch, Bindungen aufzugeben, die einen davon abhalten, solche Schritte des Gehorsams zu gehen. Und solche Bindungen, die sehr vielfältig sein können und viele schlechte Gewohnheiten einschließen, haben ihre Wurzel allesamt in einem völlig falschen Selbstbild des Menschen: Ich bin eigentlich kein Sünder. Ich tue doch nichts Böses. Mit mir kann man auskommen. Ich bin ein herzensguter, mitleidiger Mensch, der viel spendet und sich im Sportverein für andere engagiert und sogar als Student mal bei Amnesty International mitgearbeitet habe. Was brauche ich also jeden Sonntag Vergebung? Warum sollte ich mir irgendeine Sehnsucht nach Versöhnung mit Gott einreden lassen? Ich habe ja nichts gegen ihn und da wird er wohl auch nichts gegen mich haben.

Ich sage das ganz offen: Hausbesuche bei Restanten, also bei Menschen, die zwar rechtlich zur Gemeinde gehören, die regelmäßig den Gemeindebrief beziehen, die einen Konfirmandenunterricht genossen haben und wissen, wo sie das Wort Gottes hören können, aber nicht kommen, solche Besuche scheue ich. Wenn man als Pastor seiner geistlichen Verantwortung gerecht werden will, müsste ein solcher Besuch für den Besuchten immer und notwendigerweise mit einer Entscheidungssituation enden, in die sie der Ruf Jesu bringt. Und eine Gemeinde müsste es dann tragen und geistlich als unausweichlich akzeptieren, wenn sich aus solchen Besuchen mehr Austritte als geistliche Wiederbelebungen ergeben. Ich fürchte aber, dass Gemeinden das nur in den allerseltensten Fällen tragen und akzeptieren würden. Da geht es ja gerade auch in unseren Gemeinden häufig um nahe Verwandte und Angehörige. Menschen, um die man sich geistlich sorgt. Und dann macht der Pastor einen Besuch und erklärt ihnen, dass Christsein ohne die regelmäßige Feier des Gottesdienstes nicht möglich ist und sie treten aus der Kirche aus und alle scheinbar noch vorhandenen Bande sind gerissen. Was wird die Folge sein? Natürlich hat der Pastor versagt, ist ein schlechter Seelsorger, hat es nicht geschafft, den Zweifeln und Widerständen gute Argumente entgegen zu halten. Und, ganz ehrlich: Aus Menschenfurcht, aus einem instinktiven Harmoniebedürfnis bin ich dann als Pastor lieber ungehorsam, vermeide solchen riskanten Besuche oder wiege die Besuchten in falsche Sicherheit, scheuche sie nicht auf, damit sie nicht beleidigt austreten. Wie oft habe ich in solchen Situationen lieber geschwiegen, wenn die Leute behaupteten, sie könnten auch ohne Kirche und Gemeinde Christen sein und an Gott glauben. Ich weiß ganz genau: Es geht nicht und man kann es nicht und es ist seelengefährlich, so zu denken und so zu leben und ich bin verantwortungslos, es nicht klar zu sagen. Aber ich weiß genau, was passiert, wenn ich widerspreche und damit eine Entscheidungssituation schaffe. Richtig ist: Die formale Zugehörigkeit zu einer Kirche rettet niemanden. Und der formale Austritt aus einer Kirche verdammt niemanden. Richtig ist aber auch: Wenn ich verschweige, dass Christsein ohne die lebendige Gemeinschaft einer Gemeinde unter dem Wort, ohne regelmäßige Stärkung durch Predigt, Meditation und Betrachtung der Hl. Schrift und die Sakramente, ohne Umkehr und Versöhnung in der Lossprechung nicht möglich ist, dann mache ich mich schuldig und predige billige Gnade.

Aber selbst wenn ich das aus Anbiederung, Sympathieheischerei und Konfliktscheu mache, muss ich mir Ende meist trotzdem sagen lassen, als Seelsorger versagt zu haben. Von den Angehörigen der Besuchten, die keinen sichtbaren Erfolg des Besuches wahrnehmen, aber vor allem von Jesus Christus selbst, vor dem man einmal zu verantworten hat, dass man lieber ein kuscheliges Wohlfühlevangelium verkündet hat, als die klaren Worte Jesu, die uns heute im Evangelium gesagt werden.

In keinem der drei geschilderten Fälle heißt es übrigens: Und er ließ alles hinter sich und folgte Jesus nach. In allen Fällen bleibt nur Schweigen. Die Hürden, die Jesus aufgebaut hatte, waren wohl zu hoch. Das Wort Jesu hat trotzdem gewirkt. Es hat eine Entscheidungssituation geschaffen. Es hat den schmalen und den breiten Weg vor Augen geführt. Es hat Leben und Tod aufgezeigt. Es hat die Tür zum Weg in der Nachfolge geöffnet, zum Glauben in Gehorsam und zum Gehorsam im Glauben. <Und nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt. Es ist eine schwere Einbuße an biblischer Treue, wenn wir den ersten Satz ohne den zweiten lassen. Um der Rechtfertigung willen, also damit wir nicht unter der Hand unseren Gehorsam zum Grund unserer Rechtfertigung vor Gott erheben, müssen Glaube und Gehorsam strikt unterschieden werden. Aber diese Trennung darf niemals die Einheit beider aufheben, die darin liegt, dass Glaube nur im Gehorsam existiert, niemals ohne Gehorsam ist, dass Glaube nur in der Tat des Gehorsams Glaube ist.> Amen.