Predigt

(Pastor Gert Kelter am Sonntag Judika 2003)

Gottes Liebe - aufopfernde Macht

Da gingen zu ihm Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, und sprachen: Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden. Er sprach zu ihnen: Was wollt ihr, dass ich für euch tue? Sie sprachen zu ihm: Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr wisst nicht, was ihr bittet. Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde? Sie sprachen zu ihm: Ja, das können wir. Jesus aber sprach zu ihnen: Ihr werdet zwar den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, mit der ich getauft werde;
zu sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken, das steht mir nicht zu, euch zu geben, sondern das wird denen zuteil, für die es bestimmt ist. Und als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über Jakobus und Johannes. Da rief Jesus sie zu sich und sprach zu ihnen: Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an.
Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein.
Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. (Markus 10,35-45)

Liebe Brüder und Schwestern,

„Meister, wir wollen, dass du für uns tust, um was wir dich bitten werden." In vielen biblischen Kommentaren wird dieser Satz aus dem Mund der Jünger Jakobus und Johannes als „kindlich-naiv" bezeichnet und darauf hingewiesen, dass Kinder auf diese Weise um ein Versprechen bitten, ohne vorher damit herauszurücken, worum es denn eigentlich geht. Ich kann mich allerdings noch sehr gut daran erinnern, solche Bitten auch aus dem Mund meiner Eltern häufig gehört zu haben. Etwa so: „Würdest du mir einen Gefallen tun?" Ich fand diese Fragen immer sehr gefährlich und alles andere als kindlich-naiv, eher schon gerissen. Einen Gefallen sollte man seinen Eltern schon tun wollen. Aber doch bitte nicht blanko und ohne zu wissen, was denn da schon wieder für unangenehme Dinge drohen. Einigen wir uns vielleicht darauf, dass die Frage der Jünger weniger kindlich-naiv, als vielmehr ziemlich geschickt und fordernd war, also typisch menschlich.

Und weil Jesus tiefer sehen kann, weil er uns Menschen kennt, wie wir wirklich sind, weil er sich nicht als Wunschautomaten missbrauchen lassen will, sich nicht unter dem Gesichtspunkt grenzenloser Güte und Barmherzigkeit ausnutzen lassen möchte, fragt er sehr nüchtern zurück, bevor er sich auf irgendeine Antwort einlässt: „Was wollt ihr, dass ich für euch tue?"

Und als hätte er’s geahnt, dass der Wunsch der Jünger eine ziemlich Zumutung sein würde, folgt nun die Forderung: „Gib uns, dass wir sitzen einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken in deiner Herrlichkeit."

Wie kommen die beiden Brüder Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, zu einer solchen Vorstellung vom Reich Gottes, von der himmlischen Herrlichkeit? Es war nicht unser Evangelist Markus, sondern Matthäus, der überliefert, dass Jesus den Jüngern als ‚Konsequenz aus der Nachfolge’ zugesagt hatte, sie würden, <wenn der Menschensohn sitzen wird auf dem Thron der Herrlichkeit, auch sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels>.(Mt 19, 28) Diesen Floh hat Jesus seinen Jüngern also selbst ins Ohr gesetzt.

Liebe Gemeinde, vermutlich haben wir – wenn überhaupt - ganz andere Vorstellungen vom Himmel. Und darum fällt es uns vielleicht etwas schwer, uns in diesen Wunsch der Jünger hinein zu versetzen, an der himmlischen Tafel die Ehrenplätze links und rechts neben Jesus einzunehmen. Dass die beiden überhaupt glauben, gerade sie wären unter den Zwölf Aposteln diejenigen, die für eine solche Ehre in Frage kämen, hängt wohl mit den verwandtschaftlichen Beziehungen der Zebedäus-Söhne mit der Familie Jesu zusammen. Es gibt Stellen in den Evangelien, die, wenn man sie in einen Zusammenhang bringt, den Schluss zulassen, dass Salome die Mutter der Zebedäus-Söhne war und eine Schwester oder Cousine Marias. Wenn man so will, haben wir hier ein schönes Beispiel für neutestamentliche Vetternwirtschaft vorliegen.

Das alles mag nun einigermaßen verwerflich klingen: Hochtrabende Forderungen, Ehrgeiz, Kungelei. Ganz klar, dass wir uns innerlich schon von Jakobus und Johannes distanziert haben. Ganz klar?

Es ist doch ein nachvollziehbarer Wunsch der Brüder, weil es ein menschliches Bedürfnis ist, Anerkennung zu finden, gebraucht und geachtet zu werden, gelobt und akzeptiert zu werden. Es ist verständlich, dass Jakobus und Johannes die Nähe ihres Herrn und Meisters suchen und sich diese Nähe auch im Himmel wünschen und vorstellen und sich vielleicht „Himmel" gar nicht anders vorstellen können, als unmittelbare, vertraute Nähe zu Jesus Christus.

Wie viel Heuchelei und Scheindemut findet man außerhalb, aber eben auch und vielleicht sogar gerade innerhalb der Kirche, die nur so tut, als wolle man dienen, den unteren Weg gehen, unscheinbar und unauffällig unter Verzicht auf Lob und Anerkennung immer und vor allem gerne am unteren Ende der Tafel sitzen? Nach dem Motto: Wer sich selbst erniedrigt, der will erhöht werden!

Da erkenne ich vielleicht, dass ich bestimmte Gaben habe, wohlgemerkt: Gaben, also etwas, worauf ich mir durchaus nichts einbilden kann, und denke, dass ich diese Gaben auch in leitender, planender, federführender Funktion einbringen könnte. Aber meine anerzogene Demut hindert mich daran, einmal laut und vernehmlich „hier!" zu rufen, wenn es darum geht, dass eine solche Position besetzt wird. Warum eigentlich?

Was ist daran ‚christlich’, sich nicht über Lob und Erfolg zu freuen und das auch zu sagen?

Warum wird von einem Bischof erwartet, dass er sich stets und ständig als ‚Diener’ versteht und bezeichnet und nicht zugibt, dass es ihn ausfüllt und dass es ihm vielleicht Freude macht zu leiten, Einfluss zu nehmen, zu repräsentieren, zu koordinieren? Ist die Gabe der Leitung nicht auch eine Gabe, mit der man ganz selbstverständlich dienen kann, ohne deswegen nicht mehr klar ersichtlich ein Leitungsamt zu haben? Und ist es nicht für eine Gemeinschaft ausgesprochen heilsam und förderlich, wenn sie einen Leiter hat, der auch wirklich leitet?

Mit Jesus Christus, das ist ein wichtiger Grundsatz, sind die Strukturen dieser Welt nicht einfach verschwunden oder verdammenswürdig. Es gibt, solange diese Erde steht, nach wie vor ein oben und unten, es gibt Regierende und Regierte, es gibt Männer und Frauen, und das alles in erkennbarer Unterschiedenheit. Im Neuen Testament wird nicht einmal, um diesen Gedanken noch etwas drastischer zu verdeutlichen, die Sklaverei verurteilt oder den Christen angeordnet, sie in ihren Reihen abzuschaffen. Paulus schickt sogar den entlaufenen Sklaven Onesimus zu seinem Herrn Philemon zurück. Aber, und darauf kommt nun alles an: Unter Christen werden diese alten Strukturen mit einer neuen Qualität gefüllt. Das Kriterium dafür ist die Liebe, die wechselseitige, liebevolle, aufopfernde Unterordnung. Diese Art der Unterordnung widerspricht nicht den Strukturen einer Vorordnung des einen über den anderen.

Ihr Herren sollt euren Sklaven nicht drohen, sondern sie in Liebe als Brüder akzeptieren, sagt Paulus. Ihr Männer sollt eure Frauen lieben wie Christus die Gemeinde geliebt hat und sich für sie aufgeopfert, sein Leben für sie gegeben. Alte Strukturen, neue Qualität. „Ihr wisst", sagt Jesus, „die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Diener sein." Mit anderen Worten: In dem Bewusstsein, um der Liebe willen aller Diener zu sein, kann und wird es auch Erste geben. Die sind und bleiben auch als Erste, als Leiter, als Regierer erkennbar. Aber sie werden sich nicht auszeichnen durch brutales Niederhalten der ihnen anvertrauten Menschen, nicht durch Gewalt und Machterhalt um jeden Preis, sondern dadurch, dass sie in ihrem Amt und in ihrer Aufgabe für die anderen einsetzen. Das Kriterium ist die Liebe.

Liebe Gemeinde, bei allem Verständnis für den Wunsch der beiden Jünger: So weit sind sie noch nicht. Sie wissen nicht was sie bitten, bescheinigt ihnen Jesus. Sie haben die Voraussetzungen und die Konsequenzen nicht erkannt und verstanden.

„Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, oder euch taufen lassen mit der Taufe, mit der ich getauft werde?", fragt Jesus die beiden.

Und das heißt: Wird euer sehnsüchtiger Wunsch nach meiner Nähe auch dann noch bestehen, wenn das bedeutet: Mitgefangen, mitgehangen? Wenn ihr um meinetwillen verfolgt, angeklagt, verurteilt und getötet werdet? Wisst ihr, worauf ihr euch einlasst, wenn ihr euch schon jetzt einen himmlischen Sitzplatz an meiner Seite sichern wollt?

Wissen wir das, liebe Brüder und Schwestern? Einfluss, Macht, Lob, Anerkennung – das zu wollen ist nicht an sich verwerflich. Von dieser Vorstellung sollten wir Abschied nehmen. Aber das ist immer nur um den Preis mancher Entbehrung und manches Verzichtes zu erhalten, wenn nicht Egoismus, Gewalt, Tyrannei und Eigensucht die Kriterien sind, sondern die Liebe, die Verantwortung, der aufopfernde Einsatz.

Das gilt für Christen im weltlichen, im kirchlichen und im ganz persönlichen geistlichen Bereich. Um das Beispiel von eben noch einmal zu bemühen: Ein Bischof darf gerne Bischof sein und es auch genießen, Einfluss zu haben und zu nehmen. Er muss nicht dauernd versichern, welche Last und Bürde das bedeutet und dass er ja nur durch Zwang und Überredung in dieses Amt geraten ist und eigentlich nur ein kleines unbedeutendes Licht sei. Aber ein Bischof muss auch viel ertragen und auch viel ertragen können. Er ist der Erste, aber auch der Erste, der sämtliche Kritik abbekommt. Das zu ertragen macht einen großen Teil seines Dienstes in der Leitung aus. Und das kann er nur, ohne sich ständig angegriffen zu fühlen und als Angegriffener und Verletzter dann eben doch mit Drohen, Gewalt und Paragraphen zu reagieren, das kann er nur, wenn er sein Amt in Liebe ausübt. Das gilt für den christlichen Unternehmer genauso wie für Kirchenvorsteher, für Pastoren und für jeden anderen und alle anderen, die in irgendeinem Bereich als Christen eine leitende Funktion ausüben.

Worin diese Liebe besteht, aus welcher Quelle sie sich speist, in welcher Kraft sie immer wieder erfrischt und gestärkt wird? Christus sagt: „Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele."

Wenn es einen gibt, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, dann ist das Jesus Christus. Aber er setzt seine Macht ein als Lösegeld. „Lösegeld" – das ist ein Begriff, der auch im Alten Testament häufig und an entscheidenden Stellen vorkommt. Die Jünger konnten wohl verstehen, was Jesus damit sagen wollte:

Bei Jesaja heißt es, Gott habe die Völker als „Lösegeld" für Israel gegeben. Jesus opfert nicht die Heiden für Israel, sondern sich selbst für alle Völker. Beim jüdischen Versöhnungsfest Jom Kippur begegnet der Begriff „Lösegeld" im Sinne von Sühneopfer. Jesus ist das Sühneopfer für die Sünden der Welt. Wollte man einem Sklaven die Freiheit schenken, musste ein Lösegeld bezahlt werden. Christus gibt sein Leben für unsere Befreiung, unsere Erlösung aus der Sklaverei der Sünde und des Todes.

Und ein Lösegeld musste auch bezahlt werden bei der Rückgabe eines Landes an den ursprünglichen Eigentümer. Gott gibt seinen Sohn als Lösegeld, um uns Menschen wieder aus dem Exil in die Heimat zu rufen, um uns sich selbst als dem ursprünglichen Eigentümer zurück zu geben.

Christus wird zum Diener nicht dadurch, dass er auf seine Macht verzichtet, sondern indem er alle Macht im Himmel und Erden als Lösegeld einsetzt für uns. Das ist die Macht der Liebe. Die einzige Macht, die nicht versklavt, sondern erlöst und befreit. Amen.