Predigt

(Pastor Gert Kelter am 3. Sonntag im Advent 2002)

Lernen, in Gott zu ruhen

Und es begab sich, als Jesus diese Gebote an seine zwölf Jünger beendet hatte, dass er von dort weiterging, um in ihren Städten zu lehren und zu predigen. Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert. Als sie fortgingen, fing Jesus an, zu dem Volk von Johannes zu reden: Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Wolltet ihr ein Rohr sehen, das der Wind hin und her weht? Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Menschen in weichen Kleidern sehen? Siehe, die weiche Kleider tragen, sind in den Häusern der Könige. Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Propheten sehen? Ja, ich sage euch: er ist mehr als ein Prophet. Dieser ist's, von dem geschrieben steht (Maleachi 3,1): »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her, der deinen Weg vor dir bereiten soll.« Wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von einer Frau geboren sind, ist keiner aufgetreten, der größer ist als Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im Himmelreich, ist größer als er. Aber von den Tagen Johannes des Täufers bis heute leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich. Denn alle Propheten und das Gesetz haben geweissagt bis hin zu Johannes; und wenn ihr's annehmen wollt: er ist Elia, der da kommen soll. Wer Ohren hat, der höre! (Matthäus 11,1-15)

Liebe Brüder und Schwestern in Christus,

„Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?"

Das ist nicht nur eine zweifelnde, sondern eine verzweifelte Frage. Und eine anklagende dazu.

Dreißig Jahre hatte der Täufer in der Wüste verbracht, als Asket, der sich von wildem Honig und Heuschrecken ernährte, sich in raue Kamelhaargewänder kleidete und die Menschen zur Umkehr rief. In der Erwartung des nahen und gewaltigen Hereinbrechens des Gottesreiches und seines Messias.

Er hatte Moral gepredigt und gelebt. Er hatte die Sünden beim Namen genannt, sie gebrandmarkt, das Gericht und den gerechten Zorn Gottes angekündigt und niemanden geschont. Als er den König Herodes der Unzucht beschuldigt, weil der die Frau seines Bruders geheiratet hatte, war das Maß voll und Johannes landet im Gefängnis. Es muss ihm klar gewesen sein, dass er aus diesem Gefängnis nicht mehr lebend herauskommen würde.

Alle seine Hoffnung hatte er auf Jesus gesetzt. Er hatte ihn getauft und miterlebt, wie der Geist Gottes auf ihn niederkam und eine Stimme sagte: Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.

Am Ende findet sich Johannes in der Todeszelle eines Gefängnisses wieder. Keine Trostbotschaft Jesu erreicht ihn. Der, der gepredigt hatte, dass die Gefangenen frei sein sollen, macht keinen Finger zu seiner Befreiung krumm. Der, der gesagt hatte, wer einen Gefangenen besuche, der besuche ihn selbst, setzt keinen Fuß ins Gefängnis, um ihn zu besuchen.

Dreißig Jahre Warten. Und das soll alles gewesen sein?

Liebe Gemeinde, der Täufer klagt an. Klagt Jesus an mit seiner Frage: Bist du es, oder sollen wir auf einen anderen warten?

Jesus entsprach ganz eindeutig nicht den Erwartungen des Täufers. Er war nicht gekommen, um die Sünder mit unauslöschlichem Feuer zu verbrennen, sondern hatte die Sünder zu sich gerufen, ihnen vergeben, mit ihnen gegessen, ihnen Gemeinschaft gewährt. Er hatte niemanden verdammt, der den Forderungen der Moral nicht entsprochen hatte, sondern hatte der Ehebrecherin gesagt: So verdamme ich dich auch nicht. Gehe hin im Frieden und sündige hinfort nicht mehr.

Er war kein Asket wie der Täufer, sondern konnte das Leben lieben und genießen und wurde von seinen Gegnern darum ein Fresser und Weinsäufer genannt. Feuer und Schwefel hätte er, wenn es nach seinen Jüngern gegangen wäre, über das gottlose Jerusalem regnen lassen sollen. Aber Jesus hatte geweint, als er auf Jerusalem blickte und gebetet: Dass doch auch du erkenntest, was zum Frieden dient.

Jesus war nicht gekommen, um die Sünder hinzurichten, sondern um die Sünder aufzurichten. Das Gericht Gottes vollzieht er an denen, die umkehren und glauben, indem er sie mit dem Freispruch ins Leben entlässt. Johannes der Täufer, der an die Anstrengung, die Selbstüberwindung, den Willen zum Guten appellierte, sieht sich getäuscht von diesem Jesus, der die Gnade und die Barmherzigkeit predigt.

Jesus war ganz anders als der, den Johannes ankündigte und erwartete. Moral, Anstand, Gottesfurcht, Verzicht und Tapferkeit gegenüber den Mächtigen – das alles hatte sich offenbar nicht gelohnt. Wie lange noch sollte man auf den warten, den die Väter ersehnten?

Brüder und Schwestern, in diesem Gefängnis aus Enttäuschung und Verzweiflung, aus Unmut und Selbstmitleid sitzen wir oft genug und fragen uns: Soll das alles gewesen sein?

Das kann doch nicht sein, dass unser Festhalten am Glauben und an den Geboten sich nicht doch irgendwie auszahlt.

Johannes will es jetzt wissen: Bist du es, oder bist du es nicht?

Darauf kann man nur ja oder nein antworten. Aber Jesus verweigert dem Täufer diese klare Antwort. Die Botschaft, die man Johannes ins Gefängnis bringt, lautet: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert."

Dreißig Jahre Leben in der Einsamkeit der Wüste, dreißig Jahre Studium der Heiligen Schrift waren genug, um dem Täufer diese Worte Jesu als Zitat aus dem 35. Kapitel des Propheten Jesaja erkennbar werden zu lassen. Man vermutet, dass Johannes das Buch Jesaja auswendig kannte.

Jesus gibt sich also durch diesen Hinweis auf seine Taten als der von den Propheten verheißene Messias zu erkennen. Aber anstatt dem anklagenden Zweifler entgegenzuhalten: ‚Wehe dem, der an mir Anstoß nimmt’, preist er ihn selig: „Selig, der nicht an mir Anstoß nimmt."

Jesus preist den selig, der glaubt, auch wenn alle Erwartungen zunichte gemacht sind. Jesus preist den selig, der an IHM festhält, auch wenn er ihn nicht sieht, nicht hört, seine Gegenwart nicht spürt. Selig ist, der nicht sieht und doch glaubt. Auch den ungläubigen, zweifelnden Thomas segnet der Auferstandene am Ostermorgen mit dieser Seligpreisung.

Es sage nur keiner, dass es solchen Glauben nicht gebe.

An Krankenbetten kann man ihm begegnen, wo Menschen die Güte Gottes dankbar preisen, von denen man annehmen sollte, dass sie nichts als nur noch klagen und anklagen müssten.

Und es gibt Todgeweihte, schwerst Drogenabhängige, die durch die Begegnung mit Jesus Christus eine Lebenswende vollziehen und heil und gesund werden und das Evangelium verkünden. Man trifft sie vielleicht nur selten in unseren satten und selbstzufriedenen Traditionsgemeinden, aber sie lassen sich finden bei der Heilsarmee oder im Jesus-Zentrum auf St. Pauli.

Und es gibt zerrissene und zerrüttete Seelen, innerlich gelähmte Menschen, die das Heil in Jesus Christus ergreifen, aufgerichtet werden und in ein weites, offenes Leben gehen.

Es gibt in sich verkrümmte lebendig Tote, die taub sind für die Musik der Freiheit, der Schlichtheit und Gelassenheit und plötzlich durch das Wort Christi zu Hörenden werden.

Und es gibt Aussätzige, Menschen, die am Rande standen, seit sie geboren wurden. Menschen, die anders sind als andere und nichts dazu können. Menschen, die in der Gemeinde Jesu Christi, in der Kirche einen Platz und eine Heimat gefunden haben. Die rein wurden durch die Berührung Jesu Christi und zum ersten Mal das Gefühl haben, bedeutend, wertvoll, einzigartig und geliebt zu sein.

Das alles gibt es und gibt es bis heute. Und übrigens auch bei uns.

Menschen werden durch den Glauben an Jesus Christus verändert.

Liebe Gemeinde, zwischen der Geburt Johannes des Täufers und der Geburt Jesu liegen nur sechs Monate. Ein halbes Jahr. Aber zwischen Johannes dem Täufer und Jesus Christus klaffen Welten. Die Welt des Zornes, des Gerichtes auf der einen Seite und die Welt der Gnade und des Heils auf der anderen.

Johannes musste lernen, gefasst und gewiss, still und getrost zu werden und blind zu glauben, komme, was da wolle.

Und auch wir müssen uns darauf gefasst machen, dass wir in der Entwicklung unseres Glaubens manchmal dahin gelangen werden, wo wir nichts mehr zusammenreimen können und wo uns der Verstand stillsteht.

Wo man nichts mehr begreift und keine andere Antwort bekommt, als die Bestätigung der Dinge, wie sie nun einmal sind. Wo keine Lösung und keine Befreiung aus der augenblicklichen schweren Situation erfolgt und alles dunkel bleibt und sich nichts bessert und sich nichts ändert.

Und wenn es so kommt, dann las dich nicht irremachen und abbringen. Dann ärgere dich nicht an deinem Herrn, dann nimm keinen Anstoß an seinem vermeintlichen Schweigen und an der vermeintlichen Abwesenheit Gottes. Christus will dich in die Tiefe des Glaubens führen. Er will dich lehren, was es heißt, in Gott zu ruhen, will dich erfahren lassen, was vor dir schon andere erfahren haben: „Wenn ich auch gar nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht."

Christus möchte, dass unser Glaube unabhängig wird von all dem, was uns zuwiderläuft und sich uns und unseren Erwartungen und Hoffnungen in den Weg stellt. Er will, dass wir nur und ausschließlich von ihm, von unserem treuen Gott abhängig sind.

Das ist das eigentlich Tröstliche an unserer Geschichte, dass Jesus den Täufer nicht verdammt, sondern dass er ihn hineinführen möchte in die Seligkeit eines Glaubens, in dem er nicht sehen, fühlen, erfahren soll, sondern wo er blind glauben lernt: Jesus ist der Christus, der Messias und verheißene Gottessohn, auch wenn alles äußerlich gegen ihn spricht und für Johannes völlig unverständlich sein muss.

Selig ist, wer über die Führungen seines Lebens nicht murrt und klagt und seufzt, sondern dankbar sagen kann: Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du dennoch meines Herzens Trost und mein Teil. Amen.