Predigt

(Pastor Gert Kelter am Sonntag Kantate 2001)

Das Danklied der Erlösten.

Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, HERR, daß du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest.
Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der HERR ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil.
Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Heilsbrunnen.
Und ihr werdet sagen zu der Zeit: Danket dem HERRN, rufet an seinen Namen! Machet kund unter den Völkern sein Tun, verkündiget, wie sein Name so hoch ist!
Lobsinget dem HERRN, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen!
Jauchze und rühme, du Tochter Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir! (Jes.12, 1-6)

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist eine alte Weisheit, daß jede Medaille zwei Seiten hat und alle Dinge ihre Sonnen- und ihre Schattenseiten haben. Und niemals trifft man die ganze Wirklichkeit, wenn man entweder einseitig schönfärbt oder einseitig schwarzmalt.

Trotzdem möchte ich behaupten: In der Tendenz neigen wir alle eher zum Schwarzmalen, weniger zum Schönfärben. In der Tendenz klagen wir eher, als daß wir unserer Zufriedenheit, unserer Dankbarkeit und unserer Lebensfreude Ausdruck verleihen.

In der Psychologie gibt es die verbreitete Auffassung, daß viele neurotische Erkrankungen nicht nur als Symptom, als Krankheitsäußerung, sondern als Krankheitsursache eine tief verwurzelte Klagestruktur in der Persönlichkeit eines Menschen haben. Bei einem neurotischen Menschen verselbständigt sich die Klage und wird zum zweiten Ich. Alles, was man dann erlebt und wahrnimmt, sieht man durch diese Klagebrille. Und die ist tiefschwarz.

So erkrankten Personen ist es ohne Hilfe von außen gar nicht möglich, diese Klagebrille abzunehmen, so sehr ist das Klagen zur Lebensäußerung geworden. Als Querulanten und immer unzufriedene Nörgler, als Menschen, die nie Ja, allenfalls nur Ja-aber sagen können, machen sie sich und ihrer Umwelt das Leben schwer.

Martin Luther hat diese Erscheinung, die wir - so denke ich- alle in schwächerer oder ausgeprägterer Form von uns selbst kennen, geistlich gedeutet und gesagt:< Daran erkenne den erbärmlichen Stand der Gottlosen und Lästermäuler: Gott ist ihnen eine Last, wir sind ihnen eine Last und sich selber sind sie auch eine Last.>

Kann ich mich in diesen Worten wiederfinden? Alles ist uns eine Last. Nicht nur wir selbst in unserer Zwiespältigkeit und die Welt mit ihren Nöten - auch unser Glaubenszeugnis, unser Tun des Willens Gottes, unser Gottesdienst, ja Gott selber: Alles nur eine Last, nichts reine

Freude. Alles ein Problem, nichts selbstverständlich.

Sind wir alle Gottlose und Lästermäuler, und zwar darum, weil unsere ewigen Klagelieder von den gottlosen Menschen und der gottverlassenen Welt Beleidigungen des lebendigen Gottes sind, der diese gottlosen Menschen liebt und die gottverlassene Welt nicht verläßt?

Liebe Gemeinde: Die Partituren unserer Klagelieder hat alle der Teufel geschrieben, so überzeugend, so gewaltig, daß wir sie nur zu gerne mitsingen und gar nicht merken, wie sehr die Klage zu unserem Lebenslied geworden ist, wie sehr wir dem Widersacher damit unsere Stimme geben, der Finsternis den Pinsel leihen, mit dem der Herr der Finsternis alles schwarz malt.

Machen wir doch alle nach dem Gottesdienst und dann im Laufe dieser Woche die Probe aufs Exempel: Untersuchen wir doch einmal, was wir und was andere so reden und wie wir und die anderen reden. Wir wären wahrscheinlich von tiefem Schweigen umgeben, wenn wir einmal bewußt auf alles Klagen verzichteten. Haben wir denn wirklich sonst nichts zu sagen?

Die Überschrift über diesen Sonntag und diesen Gottesdienst lautet: Cantate Domino - singt dem Herrn ein neues Lied; also: Laßt die alte Klageleiher! Und die Begründung taucht auch schon in der Überschrift auf: Denn er tut Wunder.

Vielleicht ist es das: Wir brauchen eine neue Partitur, die uns die Wunder Gottes erschließt, die uns wieder zu einem neuen Blick für das erlösende, heilende, befreiende Handeln Gottes in unserem ganz alltäglichen Leben schenkt. Und zwar gerade auch in dem alltäglichen Leben, dessen Schattenseiten und Kehrseiten nicht wegdiskutiert werden können.

So, wie das Leben zur Zeit des Propheten Jesaja, der uns ein Danklied der Erlösten überliefert hat, ein von Schatten und Düsternis umwölktes Leben war. Es gab für unser Empfinden für Jesaja nicht den geringsten Grund, ein Danklied anzustimmen: Die Babylonier würden vor Jerusalem ziehen, es erobern, den Tempel dem Erdboden gleichmachen und einen Großteil der Juden in die Gefangenschaft nach Babylon treiben. Aus mit den schönen Gottesdiensten des Herrn. Aus den Tempelruinen wuchern Disteln und Dornen.

Im wahren Sinne des Wortes ist das Danklied Jesajas nichts als Zukunftsmusik.

Kann ich da einstimmen?

Welche Namen trägt die Gefangenschaft meines Lebens? Krankheit oder Angst oder Sorge um mich oder andere? Welche Dornen und Disteln überwuchern mich? Unzufriedenheit oder Ehrgeiz oder Neid oder Selbstmitleid?

Und die Ruinen, die ich täglich vor mir sehe, sind es Enttäuschungen, vergebliche Hoffnung, zurückgewiesene Liebe und fehlende Zuneigung?

Jesaja wußte, daß das Volk Israel wieder Grund zum Jubeln haben würde. Auch wenn er nicht wußte, wann das sein würde. Aber kann ich solche Gewißheit haben und deshalb jetzt schon ein Danklied anstimmen? Wäre das denn nicht genau die wirklichkeitsfremde Schönfärberei, die das Gegenteil der Schwarzmalerei darstellt?

Die erste Strophe des alten Dankliedes macht schon deutlich, wie sehr die erfahrene Wirklichkeit, so düster sie auch sein mag, dennoch Bestandteil des Dankliedes ist: Ich danke dir, Herr, daß du bist zornig gewesen über mich. Für Gottes Zorn danken - das erfordert schon einiges. Zunächst einmal die Einsicht: Gottes Zorn ist nicht ungerecht und willkürlich, sondern liebevoll angemessen und bedacht. Und: das, was wir als Zorn empfinden, ist nichts als die Kehrseite des Schmerzes, den Gott über uns empfindet.

Es ist eine bekannte Tatsache, daß man Suchtkranken in bestimmten Phasen ihrer Abhängigkeit nur durch brutale Methoden wirklich helfen kann. Es ist sicher lieb gemeint, wenn Ehefrauen ihre trinkenden Männer öffentlich vor dem Vorwurf des Alkoholismus in Schutz nehmen, wenn Kinder Alkoholkranker sich widerspruchslos fügen und nachts am Kiosk für Nachschub sorgen. Aber erfahrene Therapeuten raten in solchen Fällen oft: Laß deinen Mann fallen, zieh dich zurück, laß ihn die Folgen seines Handelns ohne jede Abfederung spüren und die Konsequenzen ohne jede Fürsprache und Entschuldigung selbst tragen. Decke ihn nicht, ziehe aus, schmeiß' ihn raus, laß ihn runterkommen und seine Verfallenheit an die Sucht erkennen. Das ist manchmal die einzige Form, echte Liebe zu zeigen, die zur Rettung führt. Und dieses Beispiel zeigt auch, daß das, was der Mann als Zorn seiner Frau erlebt, für die Frau in Wirklichkeit eine für sie selbst äußerst schmerzvolle Form wahrer Liebe ist. Nicht anders verhält es sich auch bei Gott im Verhältnis zu uns Menschen.

Erlöst und frei ist, wer angesichts solches Zornes und in tiefer Selbsterkenntnis ein Danklied für diese schmerzhafte Liebe anstimmen kann.

Das kann nur, wer aus der Selbsterkenntnis zu einer Erkenntnis Gottes als des barmherzigen, tröstenden und liebenden Gottes gelangt ist.

In der zweiten Strophe des Dankliedes des Propheten Jesaja hören wir: Siehe, Gott ist mein Heil. In der hebräischen Bibel steht da: [hine - el jeschuaht’i]. Jeschua, in der lateinisierten Form: Jesus. Er ist Heil, heißt das.

Da ist sie - die Erkenntnis, daß Gott der Barmherzige, Tröstende und Liebende ist. Da, in Jesus Christus zeigt er uns sein wahres, sein eigentliches Gesicht.

Uns Klageliedsängern muß einer förmlich den auf die Brust gesunkenen Kopf hochheben und sagen: Siehe! Sieh doch: Jeschuah - Jesus. Aber dann kann das Lied weitergesungen werden: ich bin sicher und fürchte mich nicht, denn Gott, der Herr, ist meine Stärke und mein Psalm und mein Heil. Das ist die dritte Strophe des Dankliedes, die den Blick in eine heilvolle Zukunft weitet, die bereits begonnen hat: Ihr werdet mit Freuden Wasser schöpfen aus den Brunnen des Heils. Da ist wieder das Wort [Jeschuah], Heil. Martin Buber hat es mit „Freiheit" übersetzt, weil die hebräische Grundbedeutung soviel wie „geräumig oder weitsein" meint. Unsere Zukunft ist nicht die Enge, aus der die Angst entsteht, sondern die weite Freiheit, das erlöste Durchatmen, aus dem die Freude spricht und singt.

Wenn Menschen, die in den trockenen Gebieten des Nahen Ostens leben, das Wort ‚Brunnen’ hören, dann hören sie viel stärker als wir ‚Wasser’ und das heißt: ‚Leben’. Gott ist Leben.

Wer das erkannt hat, der kann nicht anders, als aus dieser Dankbarkeit des Gerettetseins anderen den Weg zur Quelle des Lebens, zum Brunnen des Heils, also zu Jeschuah, zu Jesus Christus zu zeigen. Dankbarkeit ist der Inhalt der neuen Lieder der Erlösten, die das alte Klagelied ablösen.

„Ihr werdet sagen zu der Zeit," sagt Jesaja, „Dankt dem Herrn, ruft an seinen Namen! macht kund unter den Völkern sein Tun, verkündigt, wie sein Name so hoch ist! Lobsingt dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen. Jauchze und rühme, du Tochter Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir."

Zu solchen neuen Dankliedern muß eigentlich nicht mehr aufgefordert werden, die kommen ganz selbstverständlich. Wer die ersten drei Strophen mitgesungen hat, der singt die vierte ganz von selbst.

In der letzten Woche sah ich einen Fernsehbericht über den Absturz einer DDR-Interflugmaschine bei Leipzig, besetzt mit Passagieren aus dem Westen, die die Leipziger Messe besuchen wollten. Außer zwei Personen überlebte niemand den Absturz, bei dem die Maschine völlig ausbrannte. Die beiden Überlebenden verdankten ihre Rettung nur der zufälligen Anwesenheit zweier Bauern, die beherzt und mutig unter Einsatz ihres eigenen Lebens das Menschenmögliche taten. Den Ehefrauen der Geretteten wurde es gestattet, nach Leipzig zu kommen und ihre Ehemänner im Krankenhaus zu besuchen. Als sie den Rettern danken wollten, ganz selbstverständlich, wurde ihnen das verboten, weil die DDR-Behörden die Unfallursache vertuschen wollten und ein persönliches Gespräch zwischen den Rettern und den Frauen der Geretteten für gefährlich hielten. Aber die beiden Frauen weigerten sich, die DDR wieder zu verlassen, bevor sie nicht den Rettern persönlich danken konnten. Die Behörden mußten schließlich nachgeben. Wer gerettet wird und seinen Retter kennt, der muß einfach danken, der möchte, daß alle wissen, wer einem das Leben bewahrt und wieder geschenkt hat.

Liebe Gemeinde, so wird deutlich, daß das Danklied der Erlösten sich an den Erlöser richtet, letztlich also gesungenes Gebet ist. Wer singt, der betet doppelt, wußte schon der Kirchenvater Augustinus.

Aber so, wie auch in gesprochene Gebete nur einstimmen kann, wer den Adressaten jedes Gebetes kennt und anerkennt, so, wie auch gesprochene Gebete keinen missionarischen Charakter nach außen haben, so dient eben auch das gesungene Lob-, Dank und Bittgebet der Erbauung der Erlösten untereinander. Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen, schreibt auch der Apostel Paulus an die Epheser.

Musik ist kein Ersatz für Mission, Singen kein Ersatz für evangelistisches Reden, das Amt für Kirchenmusik keine Alternative zur Kirchenmission.

Viele Zeitgenossen kommen gerne in aufwendig gestaltete Kirchenkonzerte und schmatzen vor Andacht beim Erklingen von Haydns „Schöpfung", ohne das Wort des Schöpfers darin zu vernehmen. Und Händels „Messias" kann Heiden zu Tränen rühren, ohne daß das Evangelium des Messias die Herzen erreicht. Unser gemeinsamer Dienst als Gemeinde muß sich darum darauf richten, vielen Menschen das Wort vom Kreuz als Wort von der Rettung zu bezeugen, damit dann allerdings auch viele mit einstimmen können in das Danklied der Erlösten.

Amen.