Predigt
(Pastor Gert Kelter am Fest der Geburt Christi (Weihnachten) 2001)
Christliche Immunität.
Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen.
Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott. (Galater 4, (3)4-7)
Liebe Brüder und Schwestern,
wenn ein Staat einen Botschafter in ein anderes Land entsendet, muss sich dieser Botschafter gut auf den Dienst im Ausland vorbereiten. Zuerst wird er die Sprache des Gastlandes möglichst perfekt lernen. Er wird sich mit der Geschichte, der Mentalität, den sozialen und wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen des anderen Landes intensiv befassen, um sich hineindenken zu können, um die Interessen des eigenen Landes auch angemessen vermitteln und so vertreten zu können, dass die Verantwortlichen des Gastlandes seine Anliegen nachvollziehen und verstehen können.
Aber ein Botschafter, so sehr er sich auch bemühen wird, beste interne Landeskenntnisse zu erwerben, bleibt ein Ausländer. Und zwar ein Ausländer mit geschütztem Sonderstatus. Er genießt Immunität, d.h. er fällt nicht unter die Gesetze des Gastlandes. Das Gebiet des Botschaftsgebäudes ist exterritorial, d.h. untersteht dem Senderland und seinen Gesetzen. Und selbst wenn der Botschafter mit dem Auto unterwegs ist, ist sein Fahrzeug mit den Kennzeichen "CD" für "Diplomatisches Korps" für die inländische Polizei unantastbar. Das geht soweit, dass ausländische Diplomaten nicht einmal die deutsche Straßenverkehrsordnung beachten und Bußgelder für Falschparken oder überhöhte Geschwindigkeit weder bezahlt werden noch einklagbar sind. Die Bonner Stadtverwaltung weiß ein Lied davon zu singen, blieb sie doch nach dem Umzug vieler Auslandsvertretungen nach Berlin auf uneinklagbaren Strafmandaten, Mietschulden, unbezahlten Energie- und Telefongebühren sitzen.
Liebe Gemeinde, als Jesus in Jerusalem einzog, fuhr er nicht in einem gepanzerten Mercedes Pullmann, übrigens auch nicht in einem Papamobil, sondern ritt auf einem Esel, und der trug kein CD-Schild. Die Krippe Jesu in der Geburtshöhle von Bethlehem war nicht exterritorial, war ganz und gar Erde und kein Stück vom Himmel. Jesus kam auch nicht auf einer Wolke, sondern wurde als Mensch von einer Frau geboren. Maria, diese Frau und Mutter, wird Geburtsschmerzen gehabt haben wie jede andere auch. Und das Kind Jesus musste den Schock des Geborenwerdens erleiden wie jeder andere Mensch auch. Er wurde in Windeln gewickelt und das zeigt deutlich an, dass sich der Säugling Jesus auch in seinen körperlichen Funktionen von anderen Säuglingen nicht unterschied. Er konnte und musste frieren, hungern, Angst haben, weinen, schwitzen, schlafen, essen und trinken. Er kannte alle Gefühle wie jeder von uns auch, konnte Mitleid und Zorn empfinden, Trauer und Freude. Nur bei der Freude fällt mir auf, dass an keiner Stelle des Neuen Testamentes berichtet wird, dass Jesus gelacht hätte.
Ein Mensch, der nichts zu lachen hatte, war Jesus, dessen Leben unter den Gesetzen der Religion und des Staates, unter den Naturgesetzen der Stärke, der Rache, des Neides, des Bösen zerbrach. Keine Immunität, kein Sonderstatus eines göttlichen Botschafters konnte und sollte ihn wohl auch schützen und bewahren.
Liebe Mitchristen, wir feiern das Fest der Menschwerdung Gottes. Und wir feiern es als Weihnachten, als besinnliches, liebliches, vielleicht auch romantisch-idyllisches Fest der Liebe. Die Verse aus dem Galaterbrief scheinen dazu nicht zu passen und sind doch Weihnachtsverse wie kaum andere: Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan. Das heißt: Gott wurde Mensch, ganz und gar.
Das Gesetz, von dem hier die Rede ist, meint nicht in erster Linie die guten Ordnungen Gottes, sondern, wie es im vorangehenden Vers 3 heißt: Als wir unmündig waren, waren wir in der Knechtschaft der Mächte der Welt.
Also um diese Mächte der Welt geht es und diesen Mächten der Welt ordnet sich Gott selbst in seiner Menschwerdung vollkommen unter, leidet daran und geht daran zugrunde.
Wenn man diese Mächte der Welt in einen Begriff fassen möchte, könnte man sagen: Es geht um das Naturgesetz der Evolution, um das Recht des Stärkeren.
Zur Zeit ist in den USA wieder eine Debatte im Gange, bei der fromme christliche Kreise aus den südlichen Bundesstaaten versuchen, die Evolutionslehre aus dem Biologieunterricht zu verbannen und sie durch die Kreationslehre, also die biblische Schöpfungslehre zu ersetzen. Ob das die richtige Vorgehensweise ist, mag man zurecht bezweifeln. Aber eines sollte man dabei nicht vergessen: Alles Übel, alles Böse in der Welt resultiert letztlich aus dieser Grundannahme, dass der Stärkere oder das Stärkere sich immer gegenüber dem Schwächeren durchsetzt und dies auch der Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten voll entspricht, also keineswegs verwerflich oder infrage zu stellen sei. Die Evolutionstheorie ist eine Weltentstehungslehre und eine Weltanschauung, die sehr realistisch beschreibt, wie sich diese Welt nach dem Sündenfall tatsächlich darstellt. Und dieser Realismus ist es wohl auch, der die Evolutionstheorie als Ersatzreligion, die der menschlichen Vernunft zugänglich ist, so interessant und plausibel erscheinen lässt. Wer sich gegen die Weihnachtsbotschaft sperrt, die besagt, dass Gott selbst dieses Gesetz auf sich nimmt, sich ihm unterwirft, um es ein für allemal zu durchbrechen, der stellt sich auf die Seite der Mächte der Welt.
Alle derzeitigen Diskussionen um Gentechnologie, um Abtreibung, um Krieg als Mittel zur Terrorbekämpfung lassen sich letztlich auf diese beiden entgegengesetzten Positionen zurückführen.
Liebe Christen, warum musste Gott Mensch werden, warum musste er sich dem Gesetz der Welt unterwerfen? Damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die Kindschaft empfingen. So sagt es Paulus im Galaterbrief. Das Wort "erlösen" bedeutet ursprünglich: loskaufen und ist dem Bild eines Sklavenmarktes entnommen, auf dem einer erscheint, der nicht nur Sklaven kauft und verkauft, sondern mit seiner Macht und seinen Mitteln Sklaven freikauft, um sie in die Freiheit zu entlassen.
Und damit berühren wir das innerste Geheimnis des christlichen Glaubens. Die Kindschaft - wörtlich: die Sohnschaft - kann nur empfangen, wer zuvor unmündig war, wer einen Aufseher, einer Verwalter oder wie Luther sagt: einen Zuchtmeister über sich hatte. Und genau diese Funktion hat das Gesetz der Welt, das Gesetz, das besagt: das Recht gehört dem Stärkeren.
So funktioniert die Welt. Aber die Folgen dieser Funktionstüchtigkeit ist die Herrschaft der Macht, der Dunkelheit, der Bosheit. Diese Welt, in der der Zuchtmeister die Unmündigen in Schach hält, ist im Grunde ein riesiger Sklavenmarkt. Es gibt nur Sklaven, aber die stärkeren Sklaven haben den schwächeren gegenüber Privilegien.
Es herrscht beherrschte Stille. Hören wir ruhig, was das wörtlich heißt: be-herrschte Stille. Die Älteren unter uns haben diese beherrschte Stille vielleicht noch in Erinnerung aus der Zeit, als man vor den DDR-Grenzen bei der Ein- und Ausreise auf die Abfertigung warten musste. Da fühlte man sich entmündigt, wie unmündige Kinder. Da konnten die, die Freiheit für etwas Selbstverständliches hielten, nachempfinden, was Freiheit für die bedeuten musste, die sie nicht hatten.
Liebe Gemeinde, wer sich dem Gesetz der Welt unterordnet, unterordnen muss, wer nach dem Gesetz des Stärkeren lebt und danach handelt und darin das Gesetz der Natur zu erkennen glaubt, ist nicht frei.
Da kann es auch Vergebung und Versöhnung immer nur um den Preis der Unterwerfung des Schwächeren unter den Stärkeren geben. Da wird es auch für Moral und Ethik keine letzten Grenzen geben, denn der Stärkere wird bestimmen, was Moral und was Ethik, was gut und was böse ist.
Da wird der Friede auf Erden nie der sein, den die Engel in der Heiligen Nacht verkündeten und meinten, sondern immer nur der zerbrechliche Friede, der auf dem vorübergehenden Gleichgewicht des Schreckens und Abschreckens beruht.
Dieses Gesetz der Welt ist der Gott dieser Welt, der alles lenkt und im Griff hat.
Und darum, liebe Gemeinde, sandte Gott seinen Sohn, als die Zeit erfüllt war. Der Herr aller Herren, der allmächtige und starke Gott selbst, der das Recht des Stärkeren allemal durchsetzen könnte, unterwirft sich diesem Gesetz und wird schwach. An dieser Stelle müssen wohl alle vernünftigen Erklärungsversuche verstummen. Aber wir ahnen, dass nur so das Gesetz der Welt, dieser unselige Kreislauf, der auf dem Recht des Stärkeren beruht, durchbrochen werden konnte. Wenn Jesus sagt: Liebt eure Feinde - wie entwaffnend ist das! Wenn Jesus sagt: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar - wie befreiend ist das! Wenn Jesus sagt: Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und doch die Seele nicht töten können - wie erlösend ist das!
Gott ist in diese Welt gekommen, um das Gesetz der Welt vom Thron zu stoßen, indem er als schwaches Kind dieses Gesetz auf sich nahm und damit durchbrach.
Und das macht aus uns Unmündigen Kinder. Genauer: Söhne, denn in der Vorstellungswelt und Sprache des neuen Testamentes heißt Kindschaft nicht eine neue, wenn auch liebevollere Unmündigkeit, meint kein neues Unterworfensein, sondern erbberechtigte Hausgenossenschaft im Vaterhaus Gottes. "Mündigwerden" darf man dann auch wörtlich verstehen: Gottes Geist öffnet uns den Mund und macht uns sprachfähig: Weil ihr nun Gottes Söhne und Töchter seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! Im griechischen Text des Neuen Testamentes stehen hier das aramäisch-jüdische Wort "Abba" und das griechische Wort "patär" für Vater nebeneinander. Und auch das nicht zufällig, denn es weist daraufhin, dass Juden und Heiden in Christus eins sind. Eine Familie Gottes, alle berufen zu mündigen Söhnen und Töchtern und zu Erben des Reiches Gottes.
Die andere Seite dieser Bürgerschaft der Christen im Reich Gottes ist die Fremdlingsschaft in dieser Welt. Und jetzt gilt uns genau das, worauf Gott verzichtet hat, um unsretwillen verzichtet hat: Als Gottes Hausgenossen, als seine Söhne und Töchter sind wir dem Gesetz dieser Welt nicht mehr unterworfen. Wo wir sind, wo wir im Namen des dreieinigen Gottes uns versammeln, ist exterritoriales Gebiet, ist mitten auf der Erde ein Stück vom Himmel, weil Gott selbst mitten unter uns ist. Wir tragen - nun mit neuer Bedeutung - das Kennzeichen ‘CD’ auf unserer Stirn. Und das heißt dann: Christi Domini, also des Herrn Christus Eigentum. Damit genießen wir die Immunität, die Gott uns in Christus schenkt. Wir haben Anteil an seiner Stärke, an seinem Leben, an seiner Heiligkeit, seinem Sieg über das Gesetz der Welt. Die stärkste, in dieser Welt nicht zu überwindende Ausdrucksform des Gesetzes der Welt ist der Tod. Hier kommt das Gesetz des Stärkeren zum Ziel. Wo wir aber Anteil am Sieg über das Gesetz der Welt haben, wo wir Erben sind, haben wir auch Anteil am Sieg über den Tod und das Gesetz hat auch hier keine Macht mehr über uns.
Liebe Gemeinde: Da sehen wir, dass Weihnachten, Karfreitag, Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten immer zusammengehören. Gesandt in die Welt, geboren von einer Frau - das feiern wir heute besonders. Aber dazu gehört: Unter das Gesetz getan und im Tod am Gesetz zerbrochen - das bedenken wir Karfreitag. Dadurch das Gesetz des Stärkeren und damit den Tod besiegt - das steht Ostern und Himmelfahrt im Mittelpunkt. Den Geist in unsere Herzen gesandt - das ist das Heilsereignis zu Pfingsten.
Und das alles feiern wir in jedem Gottesdienst, das ganze Kirchenjahr hindurch. Das Geheimnis des Glaubens, von dem wir bekennen: Deinen Tod, o Herr verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit. Amen.