Predigt

(Pastor Gert Kelter am 20. Sonntag nach Trinitatis 2001)

Not bricht Gebot.

Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen.
Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?
Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren:
wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren?
Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat. (Markus 2, 23-28)

 

Liebe Schwestern und Brüder,

schon wieder Sabbat. Drei Sonntage hintereinander verordnet uns die Kirche durch die Auswahl der Predigtabschnitte ein Nachdenken über das Sabbatgebot. Langsam wird das wirklich langweilig. Ist das nicht eigentlich ein jüdisches Problem, das uns kaum noch betrifft? Man könnte das schon meinen. Andererseits ist das Sabbatgebot im Neuen Testament beispielhaft verwendet für unseren Umgang mit den Ordnungen und Geboten Gottes und unser Verhältnis dazu. Das Evangelium des heutigen Sonntags, in dem es um Ehe und Ehescheidung geht, macht deutlich, dass das Thema „Sabbat" variationsfähig ist und dann durchaus unsere Lebenswirklichkeit sogar sehr stark und bedrängend trifft.

Und außerdem: Haben wir wirklich keine Probleme mit dem Wechsel von Ruhe und Arbeit? Wir Christen haben immerhin das Privileg eines Ruhetags nicht nur mit dem Volk Israel gemeinsam, sondern auch von Israel geerbt. Im Römischen Reich hatte niemand außer den Juden einen wöchentlichen Ruhetag. Nicht zuletzt dieses Vorrecht, das Israel und später die Kirche aus Gottes erklärtem Willen ableitete, machte Juden und Christen zu Außenseitern, zu beneideten und schließlich auch angefeindeten Außenseitern der Gesellschaft. Heute wird dieses göttliche Privileg, nämlich die wöchentliche Teilhabe an der Ruhe Gottes, dieses Gnadengeschenk eines menschenfreundlichen, barmherzigen Gottes an sein Volk, an dem sogar Gäste, Sklaven und die Tiere teilhaben sollten, von allen Seiten infrage gestellt. Staatlicherseits ist der Schutz des Sonntags längst aufgelöst. Der Sonnabend ist Regelwerktag, die Debatte um die Ladenöffnungszeiten hat zu weiteren Relativierungen geführt. Traditionelle Feiertage werden abgeschafft. Und selbst unsere Freizeitgestaltung stellt das Ruhegebot, das eigentlich eine Ruheerlaubnis ist, zutiefst infrage. Aus Freizeitgestaltung ist vielfach Freizeit- und Urlaubsstress geworden. Wer seine freie Zeit nicht "aktiv" verbringt, muss schon fast ein schlechtes Gewissen haben und sich vor denen geradezu schämen, die nach Wochenenden und Urlauben von ihren tollen Aktivitäten berichten.

Gott möchte, dass wir Menschen Anteil haben an seiner Ruhe. Mit dem Sabbatgebot schafft er einen Freiraum dafür. Und so ist es mit allen seinen Geboten: Sie sollen Freiraum, Schutzraum und Lebensraum sein. Sie stellen geltendes Gesetz dar, aber doch für die, die Gott durch Jesus Christus als den Gott der Liebe, des Lebens und des Friedens kennen gelernt haben, zugleich auch Evangelium, Erweis der Gnade und Barmherzigkeit Gottes.

Aber der Umgang mit Gottes Gesetz und Gottes Geboten will gelernt sein; will in der Schule des Evangeliums, der Barmherzigkeit, der Vergebung und der Versöhnung gelernt sein.

Heutzutage gibt es im wesentlich zwei extreme Weisen des Umgangs mit Gottes Gesetz. Am weitesten verbreitet ist wohl die Ansicht: Das engt uns ein, das lassen wir weg. Und wenn dann eine Mehrheit von Menschen sich um Gottes Gebote nicht mehr schert, dann werden sie eben außer Kraft gesetzt oder den neuen Verhältnissen angepasst.

Das lässt sich sowohl an der staatlichen als auch an der zumindest landeskirchlichen Ehegesetzgebung ablesen. Vor 200 Jahren war Scheidung vollkommen ausgeschlossen, heute ist sie die Regel und es gibt Kirchen, in denen es sogar schon Scheidungsgottesdienste gibt. Man muss sich eben nach der Decke strecken, darf die Leute nicht verprellen und muss ja schließlich froh sein, wenn überhaupt noch jemand die Dienste der Kirche in Anspruch nehmen will, ganz gleich wozu.

Das andere Extrem des Umgangs mit dem Gesetz Gottes ist die Hartherzigkeit, die Bigotterie, der scheinheilige Moralismus. Ich fürchte, dadurch zeichneten sich in früheren Jahrzehnten die Vorgängerkirchen unserer Selbständigen Ev.-Luth. Kirche zuweilen auf traurige Weise aus. Scheidung, um bei diesem Beispiel zu bleiben, hieß schlichtweg „Sünde" und führte in der Regel zur Exkommunikation, von kirchlicher Wiederheirat ganz zu schweigen. Nur ein uneheliches Kind konnte das noch an Schande überbieten. Ein Christ lässt sich nicht scheiden, hieß es. Und basta. Seelsorge konnte dann nur noch Beichte, oft genug verbunden mit öffentlicher Abbitte bedeuten. Aber der Makel blieb und ein wirklicher Neuanfang aus der Vergebung heraus war nicht möglich.

Halten wir die beiden Extremformen des Umgangs mit Gottes Ordnungen und Geboten noch einmal fest: Entweder es halten sich immer weniger Menschen daran und schließlich erklärt man die Ordnungen für veraltet, überholt, nicht mehr zeitgemäß und schafft sie ab oder ersetzt sie durch andere. Oder man fordert das strikte Einhalten, die wortwörtliche Befolgung ohne Rücksicht auf menschliche Schwachheit, auf den ursprünglichen und eigentlichen Sinn der Ordnungen, nämlich Lebensraum zu schaffen und nicht zur Bedrückung zu werden.

Gibt es dazwischen keinen gangbaren, verantwortlichen und biblisch begründbaren Weg?

Jesus Christus, der sich selbst als Weg, Wahrheit und Leben offenbart, zeigt diesen Weg. „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen." Und er verweist auf den König David, der als er in Not war und Hunger hatte, die Schaubrote im Haus Gottes aß, die eigentlich niemand essen durfte. Und Jesus und seine Jünger geben selbst ein Beispiel, wenn sie am Sabbat, weil sie Hunger haben, weil also eine Not vorliegt, Kornähren ausraufen und davon essen, also eine nach jüdischer Gesetzauslegung verbotene Arbeit tun.

„Not kennt kein Gebot" - dieser sprichwörtliche Gedanke scheint dahinter zu stehen. Aber das kann nur denken, wer das Neue Testament nicht kennt. Denn Jesus ist eben nicht gekommen, um das Gesetz aufzulösen, sondern um es zu erfüllen. Das heißt auch: Um es wieder neu zu füllen mit dem guten, alten, heilsamen, von Gott ursprünglich gemeinten Sinn.

Und der ist nur von Jesus Christus, vom Evangelium her zu verstehen. Es ist doch die Not der Menschen, die aus der Übertretung der Gebote und Ordnungen Gottes, wir sagen dann: aus der Sünde entsteht, die Gott von Ewigkeit her leiden lässt und dazu bringt, dass er sich barmherzig und gnädig den Menschen in ihrer Not zuwendet und die Not beendet. Dazu ist Gott Mensch geworden. Er nimmt das Leiden der Menschen, das aus der Not der Sünde, also der Gebots- und Ordnungsverletzung entsteht, auf sich, trägt es selbst und erlöst durch sein Leiden und Sterben die Menschen aus dieser Not. Und zwar gerade nicht dadurch, dass er das Gesetz aufhebt, für nichtig erklärt, sondern dadurch, dass er es selbst erfüllt.

Not kennt also durchaus noch das Gebot, aber erfordert andere Mittel, es zu erfüllen, als einfach nur darauf zu bestehen und die Menschen dann in ihrer Not allein zu lassen ,wenn sie damit scheitern. Kommen wir noch mal auf die Ehe zurück. Die Ehe ist und bleibt unauflöslich. Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Das gilt und die Kirche hat kein Recht, diesen Grundsatz zu ändern. Scheidung ist immer gegen Gottes Willen, hat immer mit Schuld, mit Versagen, mit Sünde zu tun. Aber gilt das nicht ganz grundsätzlich für jede Form menschlicher Schuld? Wo das Festhalten an einer Ehe die Liebe nicht fördert, sondern verletzt, wenn das Festhalten an einer Ehe die Not nicht mindert, sondern vermehrt, wenn - wie Jesus Mose im Evangelium zitiert - die Herzen der Eheleute hart geworden sind wie Steine, dann hat Mose die Scheidung für möglich erklärt. Wenn das Zusammenbleiben zweier Menschen in einer Ehe zur Katastrophe geworden ist, wenn vielleicht auch noch Kinder dadurch in große Mitleidenschaft gezogen werden, dann gibt es einen barmherzigen Ausweg. Genau genommen besteht dieser Ausweg nicht in der Scheidung. Die Scheidung selbst gehört noch ganz auf die Seite der Not und der Schuld. Aber sollte das das letzte Wort sein? Der Ausweg heißt hier wie in jedem anderen Fall, der auf jeden von uns jeden Tag zutrifft: Vertrauen auf Gottes Gnade, Vergebung und Neuanfang.

Liebe Gemeinde: Die Kirche darf nicht das Gesetz Gottes und seine Ordnungen über Bord werfen, wenn sich zeigt, dass viele Menschen sich nicht mehr daran halten. Aber sie muss das Gesetz nach dem Grundsatz der Liebe anwenden. Wenn auch in unserer Kirche Scheidungen vorkommen und es dann auch zu Wiederverheiratungen kommt, dann heißt das nicht, dass der Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe damit über Bord geworfen wird. Es heißt - und das liegt immer in der seelsorglichen Verantwortung eines Pastors -, dass das unauflösliche Gesetz nach dem Grundsatz der Liebe angewendet wird. Und das ist eine gute Sache, ein Indiz dafür, dass das Evangelium bei uns in Kraft steht. Christus ist nicht gekommen, um Gottes Ordnungen aufzulösen. Er hat niemals gesagt: Tut einfach, was ihr wollt. Christus ist gekommen, um das Gesetz zu erfüllen. Er hat Gottes Gesetz erfüllt, indem er es mit dem menschenfreundlichen Antlitz Gottes versehen hat.

Gottes Weltordnungen sind gut. Jede einzelne ist eine Vorabbildung der Vollendung. Die Ehe ist eine Vorabbildung der ewigen Gemeinschaft mit Gott, der Sabbat ist eine Vorabbildung der ewigen Ruhe in Gott, die Regierungen sind eine Vorabbildung des ewigen Friedens in Gott, die Zuordnung von Mann und Frau ist eine Vorabbildung der Vereinigung aller Gegensätze, Unterschiede und Pole unter dem einen Haupt Jesus Christus. Gottes Weltordnungen sind gut, aber sie sind auch vorläufig. Und darum gelten sie nicht absolut, das heißt wörtlich: „losgelöst", sondern sie gelten in einem Zusammenhang. Nämlich in dem Zusammenhang der Liebe Gottes zu den Menschen. Gottes Weltordnungen sind um des Menschen willen da, nicht der Mensch um der Ordnungen willen. Not kennt durchaus Gebot, aber Not bricht auch Gebot. Die gnädige Ausnahme von der Regel bringt die Regel nicht zu Fall, sondern bestätigt sie. Nur so kann in dieser Zeit und Welt Leben gelingen. Nach diesem Prinzip hat Gott selbst gehandelt, als er seinen Sohn Jesus Christus für uns und unsere Schuld in den Tod gab. Ausnahmsweise ließ er uns leben. Ausnahmsweise, um Christi willen und weil er selbst ausfüllt, wo wir nur Lücken hinterlassen, hat er uns verschont. Nicht, weil wir das verdient hätten, sondern weil der lebendige Gott uns nicht vernichten will, uns nicht mit unserer Not allein und verderben lassen will, sondern weil er uns erlösen will. Amen.