3. Sonntag im Advent *  Bethlehem Hannover * 17.12.2000

 

Jesaja 40, 1-11

 

Gnade sei mit euch von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

Gottes hl. Wort an uns heute ist die altestamentliche Lesung dieses Sonntags im Buch des Propheten Jesaja im 40. Kapitel: - Verlesung-

 

Der Herr segne uns durch sein Wort. Amen.

 

Liebe Schwestern und Brüder,

 

das Wort „Heimat“ mag ein typisch deutscher Begriff sein. Und es stimmt auch, dass mit diesem Begriff gerade in Deutschland viel Schindluder getrieben wurde, um entweder rührselige kitschige Gefühlsduselei oder, was schlimmer ist, feindselige nationalistische Emotionen zu schüren. Trotzdem dürfen wir uns durch den Missbrauch dieses Wortes die tiefe Bedeutung dessen, was wir mit Heimat verbinden, nicht nehmen lassen. Die Heimat: Das ist der überschaubare, verlässliche Lebensraum, der vertraute Bereich, mit dem wir Geborgenheit, Sicherheit, Aufgehobensein verbinden. Das sind die Erinnerungen an Kindertage, an Familienfeste mit ihren Bräuchen und Ritualen. Nicht von ungefähr ist die Heimat das letzte, was Menschen aufgeben. Es muß schon viel geschehen, bis Menschen dauerhaft ihre Heimat verlassen. Krieg, Hunger, Angst um Leib und Leben, harte Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen sind die Motive, die heute Menschen dazu bewegen, sich in die vielen Flüchtlingsströme einzureihen. Und so, wie Heimat einen ganz seltsam anrührenden Wohlklang für unsere Ohren hat, so verbindet sich mit Heimatlosigkeit für uns Negatives. Aber Heimatlosigkeit, auch wenn vielleicht nicht viele Zeitgenossen dafür diesen Begriff wählen würden, Heimatlosigkeit wird zunehmend zu einem Kennzeichen unserer Zeit. Stichworte wie Globalisierung, Vernetzung, Internationalisierung fallen mir dabei ein: Alles wird unübersichtlich, unüberschaubar. Der einzelne Mensch fühlt sich –und zurecht- als Rädchen in einem undurchschaubaren Weltgetriebe, ohne die leiseste Aussicht, durch eigenes Reden oder Tun irgendetwas mitbestimmen, prägen oder bewegen zu können. Man muß nicht hochbetagt sein, um regelrecht Angst zu bekommen vor der Schnelligkeit der Entwicklung im technisch-elektronischen Bereich, in dem alles anonym, gespenstisch automatisch und ohne eigenes Zutun funktioniert. Diese enorme Geschwindigkeit, mit der sich alles um herum verändert, die immer ferner rückenden Entscheidungsgremien auf europäischer oder Weltebene, die Spezialisierung der Fachgebiete, die die meisten von uns zur Ahnungslosigkeit verdammt- das alles führt zu einem Lebensgefühl, das mit dem Begriff Heimatlosigkeit durchaus treffend umschrieben ist. Abhängig zu sein von fremden Mächten, die sich unserer Kontrolle und unserem Zugriff entziehen, hineingeworfen zu sein in eine Umwelt, die sich von uns nicht mehr in den Griff kriegen lässt, das macht Angst. Kein Wunder, dass viele Menschen heute Zukunftsangst haben und darunter leiden. Manche resignieren, anderen proben den totalen Ausstieg aus der Gesellschaft, wollen zurück zur unberührten Natur, zur Einfachheit und Bescheidenheit, andere reagieren mit blinder Gewalt und mit Agressionen, und wieder andere mit völligem Desinteresse unter dem Motto: Ich will Spaß, alles andere interessiert mich nicht. Dazu kommt, dass auch die inneren Werte, die früher auch ein Bestandteil des Begriffes Heimat ausmachten, Werte wie Respekt vor dem Leben, Ehrfurcht vor Gott, Verantwortung für die Erde, dass alle diese Wertvorstellungen heute relativ sind. Und zwar relativ egal. Sie mussten dem Profit, der sich als Fortschritt ausgibt, weichen. Es gibt nichts mehr, was absolut verlässlich, gültig, verbindlich und nicht mehr hinterfragbar ist.

Und jetzt, liebe Gemeinde, mit diesem düsteren Bild von unserer heutigen Wirklichkeit, tauchen wir ein in die Situation des Volkes Israel, das in der Gefangenschaft Babylons lebt. Heimatlos. Ohne das vertraute, von Gott verheißene und geschenkte Land, ohne seinen Tempel, ohne seine heiligen Stätten, abgeschnitten von seinen Traditionen und Bräuchen. Heimatlos und trostlos.

Die Zukunft ist dunkel, ohne Hoffnung und Perspektive. Israel ist Spielball einer fremden Macht, deren Willkür unterworfen, ohne die Möglichkeit, selbst sein Leben zu gestalten.

Umgeben von einer fremden Kultur, einer fremden Sprache, einer fremden Religion. Heimatlos in jeder Hinsicht.

Bei aller Unterschiedlichkeit zu unserer heutigen Zeit, die sich aus dem großen zeitlichen Abstand ergibt, hat die Heimatlosigkeit Israels mit unserer heutigen Heimatlosigkeit eines gemeinsam: Das Gefühl, keine Zukunft zu haben, verloren zu sein in einer fremden Welt.

So wie ein ausgesetzter Hund, festgebunden an einem Autobahnrastplatz, ist Israel verängstigt, hilflos, hoffnungslos. Man möchte hingehen, trösten, freundlich mit ihm reden, es losbinden, befreien aus der Gefangenschaft, nachhause nehmen, ihm wieder Heimat und Geborgenheit schenken.. Kein Herz so hart, keine Seele so versteinert, dass nicht barmherziges Mitgefühl aufsteigen müsste.

Und genau so, liebe Gemeinde, sieht Gott sein Volk Israel, und mehr noch: So sieht Gott uns.

Dem Propheten Jesaja schenkt Er einen Blick hinter die Kulissen der fremden Welt ohne Heimat. Und Jesaja sieht, oder besser: er hört es eigentlich nur, wie Gott seinen himmlischen Geschöpfen voller drängendem Erbarmen und Mitleiden zuruft: <Tröstet, tröstet mein Volk!

Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist, denn sie hat doppelte Strafe empfangen von der Hand des Herrn für alle ihre Sünden.>

Mein Volk, nennt Gott Israel. Er nimmt die abgerissene Beziehung wieder auf. Und darum hat in diesem Moment die Knechtschaft, die Verlorenheit, die Heimatlosigkeit bereits ein Ende. Mit diesem Wort ist alles wiederhergestellt, selbst wenn die äußeren Umstände unverändert bleiben. So wie ein Kind, das im Gewühl eines großstädtischen Kaufhauses seine Mutter verliert, völlig verlassen, verloren und verängstigt weinend dasteht und es nichts nützen würde, wenn ein Fremder es in sein Kinderzimmer zurückbrächte, aber sich alles schlagartig ändert, wenn die Mutter es wiederfindet, es tröstet und freundlich mit ihm redet: In der Gestalt der Mutter ist die Heimat, das Vertraute, das Verlässliche wieder da und alle Furcht ist vergessen. Mitten im Gewühl der Menschen des Kaufhauses.

Wo Gott mit uns Menschen ins Gespräch eintritt, ins freundliche, tröstende Gespräch, hat alle Heimatlosigkeit ein Ende. An der Hand Gottes lässt es sich vertrauensvoll und angstfrei, gelassen und behütet durchs Leben gehen, auch wenn dieses Leben noch so chaotisch und unübersichtlich sein sollte.

Diesen Trost, diese freundliche, an die Hand nehmende, aufrichtende Predigt will Gott seinem Volk Israel ausrichten lassen.

Jesaja hört, wie ein Stimme ruft: <In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserem Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen; denn des Herrn Mund hat’ s geredet.>

Was Jesaja da hört, das ist die Anweisung Gottes an seine himmlischen Geschöpfe, in der Wüste des Lebens einen Zugang zu den Menschen, zu seinem Volk zu schaffen, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um das rettende Kommen Gottes vorzubereiten. Nichts soll und nichts kann und nichts wird ihn aufhalten. Schon hat das Erlösungs- und Rettungs- und Heimholungswerk begonnen. Vor den Kulissen ahnt man noch nichts, aber hinter den Kulissen, das weiß der Prophet Jesaja jetzt, hinter den Kulissen ist Gott schon auf dem Weg.

Und seitdem wissen wir’s auch. Das soll Jesaja predigen, im Namen und im Auftrag und an der Stelle Gottes soll er freundlich mit Israel reden und es trösten.

Und der Prophet fragt zurück: Was soll ich denn predigen? Also: Womit soll ich Israel denn trösten? Was ist der Inhalt dieser Trostpredigt? Es ist doch alles vergänglich und nichts hat Bestand. Worauf ist denn Verlaß? Worauf gründet sich denn dieser Trost?

Und die Stimme antwortet: Ja, Gras ist das Volk! Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.

Israel hat in seiner Geschichte immer wieder auf vergängliche Werte und Mächte sein Vertrauen gesetzt und ist daran gescheitert. So wie die Systeme dieser Welt, die ohne Gott auskommen wollen oder anderes an die Stelle Gottes setzen, immer gescheitert sind und auch künftig scheitern werden. Und immer sind bisher geschundene, verlorene, verängstigte, aller Werte und jeder Zukunft beraubte Menschen dabei auf der Strecke geblieben. Das gilt für die, die auf Hitlers Verheißungen gesetzt haben genauso wie für die, die auf Lenins Verheißungen gesetzt haben. Und das gilt auch für die, die heute den Gott Fortschritt und den Götzen Machbarkeit, den Spaßgott, den Gewaltgott, den Nationalgott anbeten. Diese Götter helfen nicht. Sie rauben alles, was der Mensch braucht, um leben zu können. Es gibt nur eines, worauf Verlaß ist: Das ist das Wort Gottes, das uns sagt: Gott will nicht den Tod des Sünders, sondern, dass er umkehre zu Gott und lebe.

Und dieses Wort ist nicht nur Jesaja zu predigen aufgegeben, sondern ganz Jerusalem. <Jerusalem, du Freudenbotin,> sagt die Stimme, die Jesaja hört, <Sage den Städten Judas: Siehe, da ist euer Gott; siehe, da ist Gott der Herr!>

Ganz Jerusalem, das ganze Volk Gottes wird beauftragt, Freudenbotin für die Welt zu sein. Und damit ist auch die Kirche gemeint. Wir, liebe Gemeinde, jeder von uns, hat diesen Auftrag, der Welt ein Freudenbote zu sein, der predigt: Siehe, euer Gott ist da. Er ist nicht mehr fern. Ihr seid nicht mehr verloren, gefangen, vergessen.

Jeder von uns ist wie einer, der dem weinenden Kind im Kaufhaus sagen kann: Du musst nicht mehr weinen; guck – da ist deine Mutter! Du bist nicht verloren, du bist wiedergefunden worden.

Und so endet bei Jesaja dieses Lauschen hinter die Kulissen des verwirrenden Weltgeschehens damit, dass Gott als der Hirte bezeichnet wird, der mit seinem wiedergefundenen Volk, seiner wiedergefundenen Herde, die sich verlaufen und verirrt und verstrickt hatte, nachhause zieht, in die Heimat.

Und als Christen sehen wir dabei den Guten Hirten Jesus Christus, der uns verlorenen Schafen hinterhergeht, solange, bis er uns gefunden hat und heimbringt.

„Er wird nun bald erscheinen in seiner Herrlichkeit“, singen wir im Advent. Aber das Beste kommt am Schluß der Strophe: „Er ist schon auf der Bahn!“

Amen.

SDG / HDD

Der Friede Gottes, der höher ist, als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen.

 

[Predigt: Pastor Gert Kelter / Idee für die Übertragung in unsere Gegenwartssituation: Angelika Schütze]