Predigt
auf den Ewigkeitssonntag (26.11.2000)
Bethlehem Hannover
Der Herr segne an uns sein Wort. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn es in Deutschland, naß, kalt und grau wird, erinnern wir uns gerne an unseren Urlaub am Strand oder im Gebirge. Paradiesisch schön war’ s vielleicht, an einem lauen Sommerabend auf einer Terrasse oder in einem Garten zu sitzen, die Sonne tiefrot langsam versinken zu sehen und dabei dem Gezwitscher der Singvögel zuzuhören. Paradiesisch schön? Wenn wir ehrlich sind und es zulassen, uns einen Wermouthstropfen in die Paradiesstimmung kippen zu lassen, dann müssen wir vielleicht einräumen, daß das selige Gezwitscher der Warn- und Alarmgesang verängstigter Vögel war, die die beutegierige Katze bemerkt haben, die im Garten herumschleicht.
Zugegeben: Solche Gedanken sind gemein und tragen sicher nicht zum Wohlbefinden bei, aber sie sind zugleich die andere Seite, die Schattenseite unserer Wirklichkeit. Wenn in unserem Land seit Jahrzehnten Frieden herrscht, dann liegt das nicht an einer geläuterten Menschheit, sondern an den furchtbaren Erfahrungen der Vergangenheit, an einem funktionierenden Gesetzes, Staats- und Polizeiwesen, an einem Gleichgewicht der abschreckenden Militärmächte. Mann könnte viele Beispiele nennen, die deutlich machen, daß die Ordnung der Welt, wenn sie funktioniert, wenn sie sich nicht als Chaos zeigt, auf den Prinzipien beruht, die schon Charles Darwin mit dem Wort „Fressen und gefressen werden“ beschrieben hat.
Dessen ungeachtet gibt es Momente, in denen uns etwas von der ursprünglichen Schönheit der Schöpfung Gottes bewußt wird und wir mit Goethe sagen möchten: Verweile, Augenblick.
Dann freuen wir uns an der Schöpfung, stimmen ein in den Lob des Schöpfers, das die Schöpfung in all ihrer Bedrohtheit und Unvollkommenheit, ihrer Zerrissenheit und Gewalttätigkeit dennoch singt. Und dann, das gehört wohl dazu, steigt auch die Sehnsucht auf nach einer heilen, nach einer wirklich paradiesischen Schöpfung, in der der Gesang der Vögel keinen anderen Zweck mehr zu haben braucht, als Ausdruck von Lebensfreude und Gotteslob zu sein.
Ich glaube, daß sich Gott dann auch über uns freut, wenn uns in manchen, seltenen Augenblicken, solche Gedanken beflügeln. Und vielleicht sehnt sich dann auch Gott selbst nach der heilen Schöpfung des Anfangs, die er als „sehr gut“ bezeichnete.
Diese Sehnsucht Gottes drückt jedenfalls der Abschnitt aus dem Buch des Propheten Jesaja aus, den wir eben hörten. „Denn siehe, ich will Jerusalem zur Wonne machen und sein Volk zur Freude. Ich will fröhlich sein über Jerusalem und mich freuen über mein Volk.“
Was wir da hören, ist Gottes tiefster Wunsch, sein ausdrücklicher Wille für seine Schöpfung. Und es ist wichtig, daß wir dabei nicht so schnell hören: Wir sollen uns an der Schöpfung freuen, sondern: Er, Gott, will sich an uns und seiner Schöpfung wieder freuen können.
Solange die Gemeinschaft der Menschen nur einigermaßen funktioniert, weil das Chaos durch Ordnungsmächte in Schach gehalten wird, solange die Vögel zumindest auch noch singen, weil Gefahr für ihr Leben droht, solange ist das Bild, das Jesaja malt, noch Zukunft und Utopie: Solange weiden Wolf und Schaf eben nicht friedlich beieinander und der Löwe frißt kein Stroh wie das Rind, sondern lieber und ausschließlich das Rind selbst. Und solange ist auch die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und die Gemeinschaft zwischen den Menschen gestört, bedroht, unheil und zerbrochen und zerbrechlich.
Gott sehnt sich nach der Wiederherstellung der ursprünglichen Gemeinschaft, die von Vertrauen und Liebe geprägt war, diese Gemeinschaft, in der man sich noch ohne Worte verstand, in der menschlicher Wille und göttlicher Wille noch eins war: „Und es soll geschehen“, drückt Jesaja die Sehnsucht Gottes aus, „ehe sie rufen, will ich antworten; wenn sie noch reden, will ich hören.[...] Sie werden weder Bosheit noch Schaden tun auf meinem ganzen heiligen Berge, spricht der HERR“. Und damit klar ist, daß diese heile Welt wirklich ungetrübt ist, greift Jesaja zurück an den Anfang und betont: „...aber die Schlange muß Erde fressen.“ Also: Das, was am Anfang das Unheil in Gang gesetzt hat, der Böse, der bleibt besiegt, am Boden, verdammt und verurteilt und entmachtet.
Aus dieser Sehnsucht Gottes wird aber noch eines deutlich: Gott leidet am Zustand der Schöpfung, die sich von Gott losgesagt hat und ihre eigenen Wege geht, nach ihren eigenen Gesetzen lebt.
Gottes Leiden, liebe Gemeinde, das scheint mir ein Schlüsselbegriff zu sein, der uns das Wesen Gottes aufschließt.
Auch in früheren Jahrhunderten hat man sich in der Kirche bemüht zu erklären, warum Gott Mensch werden mußte, warum er leiden und sterben mußte, warum das Kreuz so unabdingbar notwendig für die Erlösung der Menschen ist. Und man hat dabei sehr stark das Alte Testament im Blick gehabt und gesagt: Die Menschen haben sich von Gott losgesagt. Das hat Gottes Recht verletzt und seinen Zorn heraufbeschworen. Diese ungeheuerliche Rechtsverletzung und dieser gerechte Gotteszorn schreien nach Sühne, nach Vergeltung, nach Wiedergutmachung. Mit Sühne verband man aber vor allem den Begriff des Opfers. Nach Recht und Gesetz hätte der Mensch durch seinen Rechtsbruch den Tod verdient, müßte sich also selbst zum Opfer geben, um das geschehene Unrecht zu sühnen. Aber Gott wird selbst Mensch und gibt sich in seinem Sohn Jesus Christus selbst als sühnendes Opfer dar. Diese Gedanken, so richtig und biblisch sie auch sind, beschreiben nichts anderes als Gottes Liebe zu den Menschen. Aber sie tun das in der Sprache des Rechtes. Und damit überwiegt ein Gottesbild, daß Gott als den gerechten und dann als den barmherzigen und darin erst vollkommen gerechten Richter darstellt. Gott ist Richter. Keine Frage, daß er das ist. Aber diese Art der Beschreibung der Erlösertat Gottes führte immer wieder dazu, daß die Liebe Gottes, die das Motiv für sein Handeln ist und die in seinem vollkommenen Leiden erst deutlich wird, in den Hintergrund tritt und das Richtersein Gottes überwiegt. Viel Zweifel, viel Verzweiflung, viel Irrlehre ist aus diesem verzerrten Gottesbild entstanden. Nicht zuletzt die ganze mittelalterliche römische Opfertheologie, die das biblische Gottesbild schließlich so entstellte, daß eine Reformation unausweichlich wurde.
Wenn wir einmal versuchen, Gottes Sehnsucht nach einer heilen, sehr guten Schöpfung mit menschlichen Begriffen fortzuschreiben, dann stoßen wir auf den Begriff des Leidens: Gott leidet ganz ungeuerlich an unserer Gottlosigkeit. Er leidet darunter, daß die Menschen ihm die Gemeinschaft verweigern. Er leidet darunter, daß wir lieber die Folgen unseres unheilvollen Handelns ertragen und vom zornigen, strafenden Gott reden, als umzukehren in seine weit geöffneten Arme. Das Leiden Gottes verwandelt sich in Freude bei Gott über jeden Sünder, der Buße tut, der umkehrt und Gottes Liebe erwidert, der sich von Gott wieder in eine Beziehung stellen läßt. Ich will mich wieder freuen über mein Volk, sagt der leidende Gott durch den Propheten Jesaja.
Dieses Leiden Gottes unter der Sünde der Menschen gibt einen Blick frei in sein Wesen: Gott ist Liebe. Und wahre Liebe zürnt nicht, will nicht Rache und Vergeltung, sondern erleidet alles, erträgt alles, erduldet alles. Nichts anderes sagt der Apostel Paulus ja im 1. Korintherbrief im sog. Hohenlied der Liebe.
Und auch schon der Prophet Jesaja hat diesen Blick für Gott als den aus Liebe Leidenden, wenn er wenige Kapitel vor unserem Abschnitt vom leidenden Gottesknecht spricht, in dem die Kirche immer Jesus Christus, das Lamm Gottes, gesehen und erkannt hat.
Das Bestechende in dem Bild des gerechten Gottes, der über unsere Gottlosigkeit zornig ist und Genugtuung verlangt, besteht ja darin, daß dieses Bild sich so gut in unsere menschlichen Vorstellungen von Rechtsausgleich einfügt. Wenn Gott als der leidende Gott, der sehnsüchtig auf Umkehr wartende Gott beschrieben wird, stellt sich die Frage: Wie kann denn Leiden Ausgleich schaffen. Der Leidende ist und bleibt das Opfer. Wird der Täter nicht in seiner Untat dadurch bestätigt und letztlich gerechtfertigt, daß das Opfer im Leiden bleibt?
Wenn es um das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen geht, dann geht es um eine gestörte Liebesbeziehung. Nehmen wir also als veranschaulichendes Beispiel die Beziehung zwischen Mann und Frau in einer Ehe. Begeht der Mann, nehmen wir ruhig einmal den Mann, obwohl es auch umgekehrt vorkommt, Ehebruch, dann ist die Beziehung gestört, wenn nicht zerstört. Die Frau hat allen Grund zu gerechtem Zorn, sie kann Wiederherstellung der Gerechtigkeit verlangen, Rache und Vergeltung schwören und nehmen. Aber sie kann damit die intakte Liebesbeziehung nicht wiederherstellen. Sie könnte aber in Liebe erdulden, erleiden, ertragen. Um jedes Mißverständnis, das ein solches praktisches Beispiel mit sich bringen kann, zu vermeiden: Es soll hier keine Anweisung zum praktischen Handeln gegeben werden. Ich weiß wohl, daß der Vergleich hinkt und im wirklichen Leben eine solche Leidensbereitschaft nicht eingefordert werden kann. Aber, bleiben wir bei dem Beispiel: Die betrogene, hintergangene, verletzte Frau erleidet die Ungerechtigkeit, die Gemeinschaftsverweigerung, den Liebesentzug und liebt trotzdem, sehnt sich nach Wiederherstellung der glücklichen Zeit des Anfangs. Sie verzichtet auf Rechtsanwalt, Zugewinnausgleich und Unterhalt und hält an der Beziehung absolut einseitig fest.
In einer menschlichen Beziehung ist das alles keine Garantie dafür, daß der untreue Ehemann zur Einsicht kommt und umkehrt, zurückkehrt. Aber eines kann das Beispiel deutlicher, verständlicher machen: Die unzerstörbare Liebe der Ehefrau. In ihrem Leiden drückt sich diese bleibende, durch nichts zu erschütternde Liebe am reinsten und klarsten aus. Und es mag vielleicht Fälle geben, wo dieses bis zum Ende durchgehaltende Leiden aus Liebe zu einer Umkehr des Ehemannes führen kann. Nehmen wir diesen Fall an, dann bleibt die Frage: ist der Ehebruch damit getilgt und so gut wie ungeschehen gemacht? Die Antwort lautet: Die Tat kann nicht ungeschehen gemacht werden. Aber das Leiden aus Liebe hat die zerbrochene Gemeinschaft wieder geheilt und den untreuen Ehemann in einer gewissen Weise gerechtfertigt. Nicht in seiner Untreue, sondern in seiner Bestimmung als liebendes und geliebtes Gegenüber. Dieses liebende Leiden ist stärker als die Ungerechtigkeit des anderen und bewirkt Vergebung und Versöhnung.
Nocheinmal: Das ist ein Vergleich, ein idealisierender und beschönigender Vergleich, der in unserer Wirklichkeit vielleicht so gar nicht vorkommt. Aber er ist doch ein Hinweis darauf, was es heißt, daß Gott sich als der aus Liebe Leidende offenbart. Als der, der das Leiden bis zum Ende aushält, bis zum Tod am Kreuz und dadurch den Rückweg der Schöpfung in die weit geöffneten Arme Gottes freimacht. Der bis zum Tod leidende, gekreuzigte Gott - das ist keinem menschlichen Gehirn entsprungen. Das ist die letzte und tiefste Selbstoffenbarung Gottes an die Menschen. Nur darin läßt sich erkennen, was es heißt: Gott ist die Liebe.
Der untreue Ehemann kann und braucht dem liebenden Leiden seiner für unseren Vergleich erdachten Ehefrau nichts entgegenzusetzen, ihm ist jede Form von Wiedergutmachung aus der Hand geschlagen. Kein Opfer, keine Sühne, keinen Liebesbeweis kann und braucht er dieser im Leiden offenbarten Liebe entgegenzuhalten. Er kann sich nur davon anrühren und verändern lassen und auch lieben.
Liebe Gemeinde, so sieht Gottes Sehnsucht danach aus, wieder Freude an seiner Schöpfung, wieder Freude an seinem Volk zu haben. Das, was Jesaja beschreibt, ist Gottes sehnsüchtiger Wunsch für diese Welt. Hier ist noch kein himmlisches Jerusalem beschrieben. Aber unser Abschnitt hat noch eine Art Überschrift, die schon ahnen läßt, was noch geschehen muß, daß aus dieser sehnsüchtigen Vision Wirklichkeit wird: „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, daß man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird.“
So beginnt nämlich die Gottesschau des Propheten Jesaja. In diesen Worten verbirgt sich schon die Ankündigung: Die Sehnsucht des unter der Sünde leidenden Gottes und die Sehnsucht der unter ihrer Sünde leidenden, seufzenden Kreatur wird gestillt werden. da wird man der vorigen Schöpfung nicht mehr gedenken, da wird man sie nicht mehr zu Herzen nehmen, da wird es kein wehmütiges Zurückerinnern an das verlorene Paradies mehr geben. Das wird auch nicht einfach nur eine renovierte, runderneuerte alte Schöpfung sein können. Da wird alles neu sein.
Es ist merkwürdig: Zwischen der Sehnsucht Gottes nach einer heilen Schöpfung, nach vollkommener, liebevoller Gemeinschaft mit den Menschen und zwischen den Menschen und der Vision vom himmlischen Jerusalem, die uns aus der Johannesoffenbarung in der Epistellesung heute begegnete, muß das Kreuz stehen. Das Zeichen des äußersten Leidens und zugleich der tiefsten Liebe Gottes.
Am Ewigkeitssonntag feiern wir die Verbindung von Karfreitag und Ostern, das Einmünden der leidenden Liebe Gottes in die Überwindung von Leiden und Tod, die Erfüllung aller Sehnsucht und die vollendete Gemeinschaft von Schöpfer und Schöpfung. Wenn Karfreitag und Ostern auf einen Tag fallen, dann ist das die Ewigkeit. Die Ewigkeit ragt aber schon jetzt in die Zeit hinein. Gott hat schon begonnen, sein Volk aus allen Völkern zu sammeln. Gottes Geist erfaßt schon Menschen in dieser Zeit und macht sie zu Ewigkeitsmenschen. Das Weinen und Klagen wird schon verwandelt in Freude. Der Tod ist schon verschlungen in den Sieg und das Geschlecht der Gesegneten des HERRN beginnt schon, erfahrbar und sichtbar zu werden.
Neue Gemeinschaft mit Gott ist schon Wirklichkeit. Gottes Wort schafft diese Wirklichkeit bereits, seine Sakramente besiegeln schon die neue Existenz der Kinder Gottes.
Und Menschen haben Anteil am Leiden Gottes, an seiner Sehnsucht, die sie zur Mission bewegt und auch schon, auch schon ganz kräftig, an seiner Freude. Amen.