Predigt
(Pastor Gert Kelter am Sonntag Reminiszere 2004)
Gott hat Frieden gemacht
Hoffnung aber läßt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist
ausgegossen in unsre Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist.
Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren, für uns
Gottlose gestorben.
Nun stirbt kaum jemand um eines Gerechten willen; um des Guten willen wagt er
vielleicht sein Leben.
Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, daß Christus für uns gestorben
ist, als wir noch Sünder waren.
Um wieviel mehr werden wir nun durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem
wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind!
Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als
wir noch Feinde waren, um wieviel mehr werden wir selig werden durch sein Leben,
nachdem wir nun versöhnt sind.
Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn
Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben. (Römer 5,
5-11)
Liebe Brüder und Schwestern,
am 7. Mai 1945 um 2.41 Uhr unterzeichnete Generaloberst Jodl
im Alliierten Hauptquartier in Reims im Auftrag des Nachfolgers von Adolf
Hitler, Großadmiral Dönitz, die bedingungslose Kapitulation der deutschen
Wehrmacht. Die Kapitulation trat am 9. Mai 1945 um 0.01 Uhr in Kraft. „Der Krieg
ist aus!" So hörte man es aus den Volksempfängern, so stand es auf Plakaten zu
lesen, die an Brandmauern und zertrümmerten Häusern angebracht wurden.
„Der Krieg ist aus!" riefen sich die Menschen zu, die aus
ihren Luftschutzkellern kamen. Sechs Jahre und einen Tag hatte er gedauert. 16
Millionen Tote hatten allein die Kampfhandlungen gefordert; 20-30 Millionen Tote
kostete der 2. Weltkrieg in Europa und Asien, wenn man die Massenvernichtung und
die Opfer der Verschleppung und in Gefangenschaft Gestorbenen mitzählt. Kinder,
die 1939 geboren wurden, kannten bis zu ihrer Einschulung nichts anderes als
Krieg. Krieg ist normal, ist Alltag.
Aber jetzt ist der Krieg aus. Es ist Frieden. Kein
ängstlicher Blick mehr in den blauen Maihimmel, aus dem keine Bomben mehr fallen
würden. Keine Sirenen, keine Nächte in Angst und Schrecken mehr. Der Krieg ist
aus. Es ist Frieden.
Die Toten bleiben tot, die Verwundeten verwundet und
verstümmelt, die Vermißten noch lange oder auf immer vermißt, die Witwen bleiben
Witwen, die Waisen ohne Eltern, die Vertriebenen ohne Heimat, die Flüchtlinge
und Ausgebombten auf längere Sicht noch ohne Obdach.
Die Städte sind zerstört, die Wirtschaft, die Infrastruktur
liegt am Boden, fremde Truppen regieren das Land. Aber der Krieg ist aus.
Friedensglocken läuten, in halbzerstörten Kirchen werden Dankgottesdienste
gefeiert. Es ist Frieden.
Liebe Gemeinde, das Leiden ist mit dem Ende des Krieges nicht
beendet, das zurückliegende, erlebte Leid nicht vergessen und die Wunden noch
lange nicht verheilt. Aber das Wort „Der Krieg ist aus! Es ist Frieden!" hat
doch alles verändert. Ganz grundsätzlich verändert, wenn auch das Leiden für den
Einzelnen, für unzählige Einzelne damit auch noch nicht zuende war.
Der Krieg hatte keinen Sinn, machte keinen Sinn, der
verlorene Krieg schon gar nicht. Aber der Frieden macht Sinn und der Frieden
verheißt Sinn. Und dennoch: Mancher, der im Krieg seinen Lebenssinn zu finden
glaubte, konnte den Frieden nicht akzeptieren.
Gott hat Frieden gemacht und seinen Frieden verkündet. Er hat
den Krieg der Menschen mit Gott einseitig beendet und durch Jesus Christus
Frieden gemacht und zwar, als wir Menschen noch seine Feinde waren. Vor unserer
bedingungslosen Kapitulation, vor der Wahrheit und der Erkenntnis, daß unser
Krieg unser Verderben ist. Das ist ein Rechtsspruch gegen den Rechtsbruch.
Ein göttliches Friedensurteil, das die menschliche Kriegserklärung aufhebt.
Der Frieden Gottes ist auf dem Hügel Golgatha vor den Toren
Jerusalems in Kraft gesetzt worden, ohne daß von uns Wiedergutmachung und
Reparationsleistungen erwartet wurden.
Er gilt allen Menschen. Der Himmel ist blau und wolkenlos,
weit geöffnet und die Engel singen „Friede auf Erden und den Menschen ein
Wohlgefallen." Und Gott läßt seinen Frieden verkünden durch das Amt, das die
Versöhnung predigt. „Es ist Friede! Laßt euch versöhnen mit Gott!"
Lasse ich mich versöhnen? Hängen die Friedensbotschaften
nicht an den Trümmern meines Lebens? Spüre ich den Frieden Gottes überhaupt?
Verändert, beseitigt er das Leiden in meinem Leben, das Leiden auf der Erde?
Was bedeutet der Friede Gottes, wenn ein unaufmerksamer
Fluglotse, übermüdet, weil eine geldgierige Flugsicherheitsfirma an Personal
spart, den Tod einer Ehefrau und Mutter und ihrer beiden Kinder beim
Flugzeugzusammenstoß über dem Bodensee vor zwei Jahren verschuldet, für den
zurückbleibenden Familienvater und Ehemann? Für diesen konkreten Menschen, von
dem vor einigen Tagen berichtet wurde, daß er den verantwortlichen Fluglotsen
der Firma Skyguide erstochen hat, hatte der Friede Gottes offensichtlich keine
Bedeutung. Ein Polizeipsychologe sagte, daß das unbewältigte Leid des Mannes
wohl die Ursache für seine Tat war. Unbewältigt, weil der Mann keinen Sinn in
seinem Leid erkennen konnte.
Den Frieden Gottes zu rühmen, zu loben und zu preisen, mag
leicht fallen. Da kann man Friedensglocken läuten. Aber wenn das Leiden nicht
zuende geht? Soll man, kann man sich des Leidens rühmen, einen guten und tiefen
Sinn darin erkennen?
Der Apostel Paulus behauptet das: Nicht allein der
Herrlichkeit, die Gott geben wird und die mit der Friedensproklamation bereits
angebrochen ist, sondern auch der irdischen Bedrängnisse unseres Lebens rühmen
wir uns, schreibt er der Gemeinde in Rom.
Als er das, vermutlich von Korinth aus schrieb, kannte er die
römischen Christen wohl noch nicht persönlich. Er hatte keine Gesichter und
keinen Namen vor Augen, nicht das ganz persönliche Leiden des einzelnen
römischen Mitchristen. Hätte er dann vielleicht anders geschrieben? Ich bin
ziemlich sicher, er hätte auch dann nichts anderes geschrieben. Vielleicht hätte
er, wie er es in anderen Briefen durchaus getan hat, einen einzelnen Menschen
namentlich erwähnt und ihm persönlich zugesprochen: Der Friede Gottes gilt auch
dir. Du bist versöhnt mit Gott. Dein Leiden ist nicht mehr sinnlos, dein Leben
nicht mehr ziellos. Dein Leiden hat einen Sinn bekommen, selbst wenn du noch
lange Zeit brauchen wirst, bis du diesen Sinn, vielleicht auch nur erahnen
kannst. Aber das mußt und darfst du wissen und glauben: Für einen Christen ist
Leiden nicht sinnlos. Denn du hast einen Vater im Himmel, der Frieden auch mit
dir geschlossen hat, als du noch sein Feind warst. Und daraus kannst du erkennen,
daß sein Wille für dich immer und von Ewigkeit her und für
alle Ewigkeit ein guter, ein heilsamer, ein gnädiger Wille ist, der dich genau
auf deinem Lebensweg zu dem Ziel bringt, das er dir verheißen und bereitet hat.
Paulus hält keine Dogmatik-Vorlesung, sondern er beschreibt
seine eigenen Glaubens- und Lebenserfahrungen: Bedrängnis hat mich geduldig
gemacht. Sie hat mich immer unabhängiger von meinen Erwartungen an das Leben und
seine Umstände, unabhängiger von den Anforderungen und Erwartungen anderer
Menschen, freier von der Forderungen an mich selbst gemacht. Die Geduld, die aus
der Bedrängnis erwächst, macht mir immer wieder neu bewußt, daß der Sinn meines
Lebens nicht darin besteht zu haben, was ich zur Zeit nicht habe, sondern
zu rühmen, was ich bereits in Fülle habe. Diese Geduld hat mir Bewährung, also
Standhaftigkeit, die Gabe auszuhalten ohne wegzulaufen gegeben. Aus dieser
Standhaftigkeit ist mir immer wieder neue Hoffnung erwachsen, weil ich glauben
konnte, daß ich nicht einem willkürlichen, grausamen Schicksal ausgeliefert bin,
sondern an der Hand eines gütigen und barmherzigen Gottes durch mein Leben gehe
und das Ziel eines Lebens in Fülle in der Ruhe Gottes erreichen werde. Diese
Hoffnung hat mich immer wieder neu in der Gewißheit bestärkt, daß mein Leben mit
allen seinen Leiden einen Sinn hat und nicht vergeblich ist. Und das alles
erfahre und erlebe ich nur deshalb, weil die Liebe Gottes in mein Herz
ausgegossen worden ist, als ich in Jesus Christus erkannt und im Glauben
ergriffen habe, wie sehr Gott uns Menschen und auch mich lieben muß, daß er
seinen Sohn dem Vernichtungsfeldzug der Menschen gegen Gott ausgeliefert hat und
wie Gott selbst in seinem Sohn Jesus Christus alles erlitten hat, alles erduldet,
alles gebüßt und gesühnt hat, was wir uns untereinander antun, was wir erleiden
und ertragen müssen und was wir Gott selbst antun.
Liebe Brüder und Schwestern, es ist schwer, einem Menschen,
der ganz konkret im Leiden steckt, zu sagen: Du kannst als Christ dein Leid
ertragen, weil Gott Frieden mit den Menschen gemacht hat und durch das Leiden
seines Sohnes allem Leid einen Sinn gegeben hat.
Das kann sehr verletzend, als Vertröstung vom hohen Roß bei
dem Leidenden ankommen. Die Freunde Hiobs haben ja nichts Böses gewollt, als sie
Hiob mit ihren Trostversuchen immer nur tiefer ins Leiden gestoßen haben.
Aber wenn ich dann in Trauerhäuser, an Kranken- oder
Sterbebetten gerufen werde und ich mir vorher mit Angst und Zittern vor solchen
Besuchen überlege, wie ich in dieses konkrete Leiden irgendeinen
nachvollziehbaren Sinn interpretieren kann, um den Betroffenen zu helfen, erlebe
ich es immer wieder, daß Gott solchen Menschen durch seinen Geist sein Wort vom
Sinn des Leidens in der Nachfolge Jesu Christi schon längst verständlich gemacht
hat, bevor ich mit meinen schwachen Trostversuchen komme und daß ich selbst von
ihnen getröstet werde und fröhlicher und befreiter wieder nachhause gehe,
als ich gekommen bin.
Ich merke also: Nicht nur der Apostel Paulus, sondern nach
ihm Millionen von Christen haben aus der Versöhnung gelebt, haben tatsächlich
durch die Bedrängnis Geduld, durch die Geduld Standhaftigkeit, durch die
Standhaftigkeit tragfähige Hoffnung, die nicht verzweifeln läßt, erfahren. Es
ist keine Theorie, es ist Leben aus dem heiligen Geist.
Der farblos gewordene, weil zu oft heruntergesagte Satz
„Christen sind nicht besser, aber sie haben es besser" bekommt dann wieder Farbe
und Bedeutung.
Liebe Gemeinde, der Krieg ist aus. Es ist Frieden. Damit hat
alles angefangen. Das Wort von der Versöhnung hören wir immer noch in rauchenden
Trümmern. Aber aus dem blauen, weit geöffneten Himmel fallen keine Bomben des
Zornes und der Vergeltung und der endgültigen Vernichtung mehr. Der Frieden hat
Sinn und Zukunft. Der Wiederaufbau hat begonnen und wir sind frei, los und ledig
von allen Forderungen nach Wiedergutmachung und nach Leistung. Und am Ende wird
Gott selbst aus den Trümmern und aus den Flüchtlingszelten dieser Erde eine
ewige Stadt bauen mit Heimatrecht für alle, die an Jesus Christus glauben.
Welch ein Meer von Gottesfrieden!
Amen.