Predigt
(Pastor Gert Kelter am Sonntag Judika 2004)
Gottverlassenheit des Gottessohnes
Als er auf Erden lebte, hat (Jesus) mit lautem Schreien und unter Tränen
Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte, und er
ist erhört und aus seiner Angst befreit worden.
Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt;
zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des
ewigen Heils geworden. (Hebräer 5,7-9)
Liebe Brüder und Schwestern,
noch vor Ostern werde ich mir den zur Zeit vielbesprochenen
Film „Die Passion" des überzeugten römischen Katholiken, Schauspielers und
Regisseurs Mel Gibson ansehen, der die letzten 12 Stunden im Leben Jesu
darstellen will. Ich kann mir also heute noch kein eigenes Urteil über diesen
Film erlauben. Die Urteile der meisten Filmkritiker in den Medien fallen
allerdings äußerst negativ aus. Es sei ein Horror- und Gewaltspektakel Marke
Hollywood, heißt es, ein geradezu obszönes blutiges Schauspiel. Vom
Antisemitismus-Vorwurf bis dahin, daß die so drastisch gezeigte Gewalt gegenüber
Jesus Haßgefühle bei den Zuschauern erzeuge und zu neuer Gewalt führe, reichen
die Anklagen.
Theologen, vor allem deutsche evangelische Theologen nehmen
vor allem Anstoß an der dargestellten, allerdings den Evangelien entnommenen
Vorstellung vom stellvertretenden Opfertod Christi für die Sünden der Menschen.
Das sei ein einseitiges, verengtes und geradezu gefährliches Christusbild. Die
Opfertod-Vorstellung sei nur ein Randgedanke des Neuen Testamentes, ein „liebender
Gott will keine Opfer", sagt der römische Theologe Adolf Holl, die ganze
altkirchliche Opfertheologie sei antiquiert, heute nicht mehr vermittelbar und
folglich aufzugeben.
In unserer lutherischen Kirche würden Theologen so zumindest
noch nicht laut reden. Der Satz vom stellvertretenden Leiden und Sterben
Jesu Christi, das zu seinen irdischen Lebzeiten beginnt und in der Lebenshingabe
am Kreuz zur Vollendung gelangt, ist weithin noch selbstverständlich, ja bildet
geradezu den Kern christlich-lutherischen Glaubens, der zugespitzt seinen
Ausdruck in der Feier des Hl. Abendmahles findet, wo es heißt: „Christi Leib,
für dich gegeben; Christi Blut, für dich vergossen."
Aber wie sieht es den Gemeinden aus, was denkt ihr, wenn ihr
vom Opfer Christi hört, vom stellvertretenden Leiden und Sterben, von Gott, dem
Vater, der seinen Sohn für unsere Sünden opfert? Ich könnte es durchaus
verstehen und wäre nicht allzu schockiert zu hören, daß da der eine oder die
andere den Satz Adolf Holls, daß ein liebender Gott doch wohl bitte keine Opfer
will und schon gar nicht seinen Sohn einem so sadistischen Leiden und Sterben
ausliefert, für zutreffend hält und sich diese Aussage zueigen macht.
Ist die Vorstellung von einem stellvertretenden Lebensopfer
eines Menschen für andere, also der Gedanke, daß einer freiwillig das Leiden und
den Tod auf sich nimmt, damit andere leben können, wirklich so unzeitgemäß und
weltfremd, daß die Kirche mit ihrer Verkündigung zwangsläufig Schiffbruch
erleiden müßte, wenn sie an dieser Theologie festhält?
Ich will euch zwei Beispiel nennen, an denen deutlich wird,
daß dieser Gedanke in Wirklichkeit noch immer eine tiefe Bedeutung auch in der
Vorstellungswelt heutiger Menschen hat und darum durchaus vermittelbar ist.
Das eine Beispiel ist der Film „Titanic", das Drama vom
Untergang des angeblich unsinkbaren Riesenschiffes im Eismeer. Im Film steht die
Liebesgeschichte zwischen der unglücklich verlobten, aus reichem Hause
stammenden Rose und dem jungen, armen Maler und Glücksritter Jack im
Mittelpunkt. Die große Masse der Passagiere schwört in menschlicher
Überheblichkeit auf Reichtum, Ausgelassenheit und die absolute Zuverlässigkeit
menschlicher Technologie, die Werte der Neuzeit, den Glauben an das Machbare und
die Überwindung der Natur. Nur das Liebespaar hält an den wahren, inneren Werten
der entsagenden Liebe fest und überwindet alle gesellschaftlichen Schranken, die
es zwischen ihnen gibt. Am Ende scheitert das Unternehmen „Übermensch" namens
„Titanic"; das Schiff stößt mit einem Eisberg zusammen und versinkt. Zunächst
überleben beide Hauptpersonen, Jack und Rose, weil sie sich auf eine im Meer
treibende Holztür retten können. Es zeigt sich aber, daß diese Tür nur Rose
alleine tragen kann. Und dann kommt, was kommen mußte: Jack verläßt die rettende
Planke und stirbt, damit Rose leben kann. Sterben für jemanden, den man
unendlich liebt – das ist die Botschaft des Films.
Eine Botschaft, die Millionen Menschen zu Tränen gerührt hat,
weil sie verstehen konnten und verstanden haben. Aber auch, weil dadurch tiefe
Sehnsüchte nach dieser hingebungsvollen Liebe entweder geweckt oder aber bedient
wurden.
Das zweite Beispiel heißt Harry Potter, in manchen
christlichen Kreisen ein nicht ganz unumstrittenes Jugendbuch in mehreren
Bänden. Die Lichtgestalt des Harry Potter, einziger Sohn eines dem Guten
verpflichteten Zaubererehepaars, wächst als verstoßenes Waisenkind bei boshaften
Verwandten auf, die ihn über seine wahre Herkunft im Dunkeln lassen. Was Harry
nicht weiß: Der böse Lord Voldemort hat Harrys Vater und Mutter, die ihn, den
Bösen und das Böse bekämpft hatten, umgebracht, als Harry noch ein einjähriger
Säugling war. Auch Harry sollte eigentlich sterben, aber seine Mutter beschützt
ihr Kind und muß darum und dabei sterben. Die Bücher beschreiben nun auf
unterhaltsame und phantasievolle Weise den Kampf Harry Potters gegen das in Lord
Voldemort verkörperte Böse. Und der Inbegriff des Bösen versucht Harry aus dem
Weg zu räumen, aber es gelingt ihm nicht. Zwischen Harry und seinem
Schuldirektor der Zaubererschule Hogwarts, Mr. Dumbledore, kommt es am Ende des
ersten Bandes zu einem tiefsinnigen Gespräch, in dem der Direktor zu Harry
folgendes sagt: „Deine Mutter ist gestorben, um dich zu retten. Wenn es etwas
gibt, das Voldemort nicht versteht, dann ist es die Liebe. Er wußte nicht, daß
eine Liebe, die so mächtig ist wie die deiner Mutter zu dir, ihren Stempel
hinterläßt. Keine Narbe, kein sichtbares Zeichen... so tief geliebt worden zu
sein, selbst wenn der Mensch, der uns geliebt hat, nicht mehr da ist, wird uns
immer ein wenig schützen."
Harry lebt also, weil ein anderer Mensch für ihn gestorben
ist. Und Millionen von Jugendlichen wie Erwachsenen verstehen diese Logik,
verstehen diese Opferlogik mit dem Herzen, die doch unserem
naturwissenschaftlichen Denken überhaupt nicht zu entsprechen scheint, die aus
einer uralten, versunkenen Zeit stammt und von modernen Theologen als heutzutage
unvermittelbar bezeichnet wird.
Liebe Brüder und Schwestern, die Kernaussage, daß einer für
den anderen aus Liebe in den Tod geht, damit der andere leben kann, daß also der
Opfertod des einen das Leben des anderen ermöglicht, ist heutigen Menschen
genauso zugänglich wie den Menschen vor 2000 Jahren. Und um so erstaunlicher
wirken die Behauptungen moderner Theologen, die ich in fast allen Kommentaren
und Predigtmeditationen zu unserer Epistel lesen konnte, die Opfertheologie des
Hebräerbriefes sei neuzeitlichen Menschen des 20. oder 21. Jahrhunderts nicht
mehr vermittelbar.
Nun ist Titanic-Jack nicht Gottes Sohn und Harrys Mutter
nicht Christus. Beide sind Menschen wie wir. Das rückt uns diese Gestalten so
nahe, läßt sie uns in ihrer Menschlichkeit vertraut erscheinen.
Aber Jesus Christus, wahrer Mensch aber eben auch und
zugleich wahrer Gott, König aller Könige und Herr aller Herren, zur Rechten des
Vaters erhöht, der lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit – das klingt
dagegen so ferne und unnahbar, so über alle Maßen unerreichbar.
Da bieten die Verse aus dem 5. Kapitel des Hebräerbriefes ein
heilsames Gegengewicht:
In den Tagen seines irdischen Lebens hat Jesus Christus
Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, also
hingegeben und geopfert, der ihn vom Tod erretten konnte. Und er ist auch
erhört, und aus seiner Angst befreit worden.
Das Lebensopfer Christi, die Hingabe seines Lebens aus Liebe,
ist also nicht auf den Tod am Kreuz beschränkt, sondern beginnt in den Tages
seines irdischen Lebens. Als der irdische Mensch Jesus, uns irdischen Menschen
darin ganz nahe, beginnt das überirdische Leiden. Seine Tränen über die blinden
und verlorenen Jerusalemer, das Weinen im Garten Gethsemane, seine Angst, sein
Bitten und Flehen, der Vater möge den Kelch an ihm vorübergehen lassen, das
alles ist schon Teil seines stellvertretenden Opfers.
Wenn Titanic-Jacks starre Hände sich langsam von der
rettenden Planke lösen und der unterkühlte Körper des Helden im Eismeer
versinkt, sehen wir das Leiden und Sterben eines liebenden Menschen und sind
zutiefst gerührt. Und das Bild des leidenden, angsterfüllten Jesus in
Gethsemane, des gefolterten, verspotteten und gekreuzigten Gottessohnes, der
nicht nur einmal für einen Menschen, sondern ein für allemal und für alle
Menschen aus Liebe zu uns, also auch zu jedem von uns, die wir hier sitzen,
dieses Leiden erträgt? Ist das nicht mehr, unüberbietbar mehr als die
Geschichten aller Film- und Buchhelden?
In unserem Abschnitt aus dem Hebräerbrief kommt nun das Wort
„Liebe" als Motiv für das Lebensopfer Jesu nicht vor. Statt dessen hören wir den
Begriff „Gehorsam". Obwohl er Gottes Sohn war, hat Jesus doch an dem, was er
litt, Gehorsam gelernt. Ist das nicht doch ein entscheidender Unterschied zu der
hingebungsvollen Liebe von Harrys Mutter?
Worin besteht denn der Gehorsam Jesu, der noch mehr und ganz
anderes sein muß, als Liebe, Vertrauen und Glauben, weil er doch der Grund für
das Heil aller Menschen ist?
Nehmen wir zum Schluß den Satz aus dem 12. Kapitel des
Hebräerbriefes noch einmal ganz wörtlich, wo es heißt: Laßt uns aufsehen auf
Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens.
Da hängt die menschgewordene Liebe Gottes sterbend ans Kreuz
genagelt. Und Jesus schreit: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
In diesem Moment geschieht etwas Unfaßbares: Der Böse, der
Teufel, der Widersacher, der nichts anderes will, als die Liebe Gottes zu
vernichten, steht kurz vor seinem Ziel. Und Gott, der doch die Liebe ist, steht
ebenfalls kurz vor seinem Ziel, weil doch gerade diese Liebe für die Schuld der
Menschen und zu ihrem Heil am Kreuz geopfert werden muß.
Das heißt aber: Der Wille des Teufels und der Wille Gottes,
des Vaters sind in diesem Moment derselbe: Christus muß sterben.
Und Jesus, der Sohn Gottes, muß den durch nichts und
niemanden zu überbietenden Gehorsam aufbringen, in diesen doppelten Willen
einzuwilligen. Da hält der Kosmos den Atem an. Das ist der Augenblick, in dem es
sich entscheidet, ob die Liebe sich sogar dem Willen des Teufels hingibt, um den
Willen des Vaters zu erfüllen. Gottverlassenheit des Gottessohnes, wie sie kein
Mensch je erfahren hat.
Und dann das Wort Jesu am Kreuz: Es ist vollbracht.
Und als es vollbracht war, ist Jesus für alle, die ihm
gehorsam sind, der Urheber des ewigen Heils geworden. „So tief geliebt worden zu
sein, wird uns immer ein wenig schützen", sagte Mr. Dumbledore zu Harry Potter.
Ein wenig Schutz ist wenig Schutz. Das stellvertretende Opfer
Jesu Christi hat uns das ewige Heil gebracht. Und die Früchte dieses Opfers, den
Leib und das Blut Christi, werden wir gleich in der Feier des Todes und der
Auferstehung des Herrn unter Brot und Wein leibhaft empfangen. So erhalten wir
Anteil an der Erlösung und an dem Heil, dessen Urheber, Jesus Christus, unser
Herr und Erlöser, auferstanden ist und lebt und uns heute wieder begegnen wird.
Amen.